Ruht das Licht
schossen die Temperaturen auf über null Grad, nur um am nächsten wieder auf minus zwölf zu sinken. Es ist schon erstaunlich, wie warm einem wenige Grad über null vorkommen, wenn man zwei volle Monate im zweistellig negativen Bereich hinter sich hat. Eine solche Kälte hatte ich in meinem menschlichen Körper noch nie erlebt. Heute war wieder einer dieser bitterkalten Tage, in denen der Frühling in so weiter Ferne schien wie nur möglich. Mit Ausnahme der leuchtend roten Winterbeeren, die die Zweige der Bäume bedeckten, wirkte die Welt, als sei jedes bisschen Farbe aus ihr verschwunden. Der Atem gefror mir vor dem Gesicht und meine Augen brannten vor Kälte. Die Luft roch, als müsste ich mich in einen Wolf verwandeln, doch das würde ich nicht.
Dieses Wissen erfüllte mich mit Freude und Kummer zugleich.
Den ganzen Tag über waren heute nur zwei Kunden im Buchladen gewesen. Ich überlegte, was ich nach der Arbeit machen sollte. Wenn meine Schicht eher endete, als Grace Schulschluss hatte, nahm ich mir meistens ein Buch und verzog mich auf das Sofa in der oberen Etage des Ladens, anstatt in das leere Haus der Brisbanes zurückzukehren. Ohne Grace war das Haus wie jeder andere Ort, an dem ich auf sie wartete, einen dumpfen Schmerz in meinem Inneren.
Heute war mir dieser Schmerz bis zur Arbeit gefolgt. Ich hatte schon einen Song geschrieben, zumindest ein kleines Stück – Is it still a secret if nobody cares / if having the knowledge in no way impairs / your living – and feeling – the way that you breathe / knowing
the things that you know about me. Na ja, eigentlich war es mehr die Hoffnung auf einen Song als alles andere. Jetzt hockte ich hinter dem Tresen und las eine Ausgabe von Roethkes Gedichten. Meine Schicht war so gut wie zu Ende und Grace würde noch eine Weile Nachhilfe geben. Die winzigen Schneeflocken, die draußen vor dem Fenster umherwirbelten, lenkten meinen Blick von Roethkes Zeilen ab: »Dunkel, dunkel mein Licht und dunkler mein Verlangen. Meine Seele wütet, wie eine Fliege in der Sommerhitze, surrend auf der Fensterbank. Welches Ich bin ich?« Ich betrachtete meine Finger auf den Buchseiten, meine wundervollen, kostbaren Finger, und hatte ein schlechtes Gewissen, dass mich dieses namenlose Verlangen immer wieder überkam.
Die Uhr rückte auf fünf vor. Um diese Zeit schloss ich normalerweise die Ladentür ab, drehte das Schild auf »Wir haben leider geschlossen« und ging durch die Hintertür zu meinem Auto.
Aber nicht heute. Heute schloss ich die Hintertür ab, nahm meinen Gitarrenkoffer und verließ den Laden durch die Vordertür. Auf dem Eis, das die Schwelle bedeckte, geriet ich ein wenig ins Schlittern. Ich setzte die Mütze auf, die Grace mir gekauft hatte – ein gescheiterter Versuch ihrerseits, mir gleichzeitig zu warmen Ohren und einer sexy Ausstrahlung zu verhelfen. Dann trat ich auf den Bürgersteig und beobachtete, wie die kleinen Flöckchen auf die wie ausgestorben daliegende Straße rieselten. So weit mein Blick reichte, ragten alte, hart gefrorene Schneeberge auf wie fleckige Skulpturen. Eiszapfen verliehen den Fassaden der Geschäfte ein zackiges Lächeln.
Meine Augen tränten vor Kälte. Ich drehte die freie Hand mit der Handfläche nach oben und sah zu, wie der Schnee darauf schmolz.
Dies war nicht das reale Leben. Dies war das Leben, wie wenn man es durch ein Fenster sah. Oder im Fernsehen. Ich konnte mich gar nicht mehr an die Zeit erinnern, als ich mich noch nicht vor all dem hier versteckt hatte.
Ich fror, Schnee fiel auf meine Hand und ich war ein Mensch.
Die Zukunft lag vor mir, unendlich weit, sie erstreckte sich immer weiter und sie gehörte mir, so sehr, wie mir noch nie etwas gehört hatte.
Euphorie wallte in mir auf und mein kaltes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als mir bewusst wurde, dass ich bei diesem kosmischen Glücksspiel tatsächlich gewonnen hatte. Ich hatte alles riskiert und hier stand ich nun, mitten in der Welt, in die ich gehörte. Ich lachte laut auf, niemand hörte mich, bis auf mein Publikum aus Schneeflocken. Ich sprang vom Bordstein und warf mich in einen schon leicht gräulichen Schneehaufen, wie berauscht von der Wahrhaftigkeit meines menschlichen Körpers. Ein ganzes Leben voller solcher Winter lag vor mir, voller Mützen und gegen die Kälte hochgeschlagener Krägen, roter Nasen und langer Silvesterabende. Im Walzertakt schlitterte ich durch die Reifenspuren auf der Straße und schwang meinen Gitarrenkoffer im Kreis
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