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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Finger, während mein Bewusstsein sich nach und nach von meinem Wolfsich löste und erste abgehackte menschliche Gedanken zuließ. In der ganzen Hütte waren Kisten und die dazugehörigen Deckel verstreut, in der Mitte lag der Gettoblaster, das Kabel lose daneben. Über den Boden zogen sich getrocknete Blutspuren, mit den Fußabdrücken eines Wolfs und eines Menschen darin. Splitter und Holzstücke aus der Tür bedeckten alles wie eine bizarre Art Konfetti, dazwischen aufgerissene Tüten mit Chips und Salzbrezeln, deren Inhalt jetzt ungegessen auf dem Boden verteilt lag.
    Ulrik kam auf mich zu, seine Stiefel knirschten durch die dünne Schicht aus Kartoffelchips, doch er blieb stehen, als ich zurückschreckte. In meinem Sichtfeld vermischten sich flackernde Bilder und ich sah abwechselnd den verwüsteten Schuppen und mein altes Zimmer voller verstreutem Bettzeug und zerfledderter Bücher vor mir.
    Er streckte mir eine Hand entgegen. »Na komm, steh auf. Ich bring dich nach Hause.«
    Doch ich rührte mich nicht. Ich sah wieder auf meine kaputten Fingernägel, unter denen blutige Splitter steckten. Ich war verloren im Mikrokosmos meiner Fingerspitzen, an denen die zarten Linien wie mit roter Farbe nachgezogen hervortraten. Ein einzelnes dreifarbiges Wolfshaar klebte in dem Blut. Mein Blick wanderte zu den wulstigen, noch frischen Narben an meinen Handgelenken, die mit dunkelroten Spritzern übersät waren.
    »Sam«, sagte Ulrik.
    Ich sah nicht zu ihm hoch. All meine Kraft und Worte waren aufgebraucht, nachdem ich so verbissen gekämpft hatte, um mich zu befreien. Und jetzt konnte ich mich noch nicht mal dazu bringen aufzustehen.
    »Ich bin nicht Beck«, sagte er, hilflos. »Ich weiß nicht, was er immer macht, um dich wieder zurückzuholen. Ich spreche deine Sprache nicht, Junge. Was geht in deinem Kopf vor? Guck mich an.«
    Er hatte recht. Beck verstand es, mich wieder in die Realität zurückzuholen, aber Beck war nicht hier. Schließlich hob Ulrik mich auf – mein Körper hing so kraftlos in seinen Armen wie der eines Toten – und trug mich den ganzen Weg zum Haus. Ich sagte kein Wort und aß nichts, so lange, bis Beck sich verwandelte und nach Hause kam. Bis heute kann ich nicht sagen, ob es Stunden oder Tage gedauert hat.
    Beck kam nicht gleich zu mir. Stattdessen ging er in die Küche und rumorte dort eine Weile herum. Als er dann ins Wohnzimmer kam, wo ich in einer Sofaecke kauerte, hatte er einen Teller Rühreier dabei.
    »Ich hab dir was zu essen gemacht«, sagte er.
    Die Eier waren genau so, wie ich sie mochte. Ich sah auf den Teller statt in Becks Gesicht und flüsterte: »Tut mir leid.«
    »Du musst dich für nichts entschuldigen«, entgegnete Beck. »Du wusstest es doch nicht besser. Und Ulrik war sowieso der Einzige, der diese furchtbaren Chips mochte. Du hast uns allen nur einen Gefallen getan.«
    Er stellte den Teller neben mich aufs Sofa und ging dann in sein Arbeitszimmer. Ich wartete eine Minute, dann nahm ich den Teller und schlich ihm lautlos nach. Ich setzte mich vor die offene Bürotür in den Gang und lauschte beim Essen dem unregelmäßigen Klappern von Becks Fingern auf seiner Computertastatur.
    Das war damals, als ich noch völlig verstört gewesen war. Als ich noch geglaubt hatte, ich würde Beck für immer an meiner Seite haben.
    »Hi, Ringo.«
    Coles Stimme holte mich ins Hier und Jetzt zurück, Jahre später, wo ich nicht mehr neun Jahre alt war und keine liebevollen Beschützer mehr hatte. Er gesellte sich zu mir, als ich so dastand und auf die Tür des Schuppens starrte.
    »Immer noch ein Mensch, wie ich sehe«, sagte ich, überraschter, als ich meine Stimme verraten ließ. »Was machst du hier draußen?«
    »Ein Wolf werden, hoffe ich.«
    Bei diesen Worten lief mir ein unangenehmer Schauer über die Haut, als ich mich daran erinnerte, wie ich den Wolf in mir niederzukämpfen versucht hatte. Wie sich mir vor der Verwandlung der Magen umgestülpt hatte. Das elende Gefühl, kurz bevor ich mich selbst verlor. Ich antwortete nicht. Stattdessen drückte ich die Tür des Schuppens auf und tastete nach dem Lichtschalter. Im Inneren roch es muffig, unbewohnt; die abgestandene Luft war voller Staub und Erinnerungen. Hinter mir ließ ein Kardinal sein Gezwitscher ertönen, das wie ein quietschender Turnschuh klang, immer und immer wieder. Ansonsten war kein Laut zu hören.
    »Wo wir schon mal hier sind, kannst du ja jetzt genauso gut den Schuppen kennenlernen«, schlug ich vor. Ich ging rein.

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