Ruht das Licht
Verhältnis von Verachtung und Unglauben in ihre Stimme zu legen. »Im Wald. Na klar. Dass ich da nicht selber draufgekommen bin. Was macht man schließlich sonst, wenn man krank ist? Ich selbst würde ja einen gepflegten, therapeutisch wertvollen Ausflug in den Einzelhandel vorziehen, aber der Wald ist sicherlich eine durchaus lohnende und sozial anerkannte Alternative. Macht ja quasi jeder heutzutage. Soll ich vielleicht Skier mitbringen? Oder ein Zelt?«
»Nur dich selbst«, antwortete ich.
»Möchte ich wissen, was du da im Wald eigentlich treibst?«
»Ich war spazieren«, erklärte ich. Das war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Ich wusste einfach nicht, wie ich ihr den Rest erzählen sollte.
Isabel musste am Waldrand ein paarmal nach mir rufen und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich schließlich aus dem dämmrigen Wald heraus war, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen – ich war noch immer zu erschüttert von der Erkenntnis, die mir gekommen war, als die Wölfe bei mir waren.
»Solltest du nicht im Sterben liegen oder so?«, rief Isabel mir entgegen, als sie mich auf das Haus zukommen sah. Ich hatte meiner Mutter die Meinung gesagt – aber ich musste wohl trotzdem langsam nach Hause, und wenn ich jemanden mitbrachte, standen meine Chancen gut, dass sie wenigstens nicht versuchen würde, an unser Gespräch von vorhin anzuknüpfen.
Isabel stand neben dem Vogelhäuschen, die Hände in den Taschen vergraben und den fellbesetzten Rand ihrer Kapuze auf ihren Schultern bis über die Ohren hochgezogen. Als ich näher kam, huschte ihr Blick zwischen mir und einem verblassten weißen Fleck Vogelkot auf dem Dach des Häuschens hin und her. Der schien sie ernsthaft zu stören. Sie war durch und durch auf Isabel gestylt: Die Kurzhaarfrisur rahmte schroff ihr schönes Gesicht ein und ihre Augen waren dramatisch geschminkt, wie mit schwarzer Tinte umrandet. Sie hatte also tatsächlich vorgehabt, irgendwas mit mir zu unternehmen. Jetzt hatte ich doch ein schlechtes Gewissen, als hätte ich ihr aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen abgesagt.
Ihre Stimme klang noch ein paar Grad kälter als die Luft. »Was genau ist das denn für eine Behandlungsmethode, bei der man sich bei drei Grad plus im Wald rumtreibt?«
Es war wirklich ziemlich kalt geworden, meine Fingerspitzen waren inzwischen knallrot. »Drei Grad? So kalt war es aber nicht, als ich losgegangen bin.«
»Tja, jetzt aber schon«, erwiderte Isabel. »Ich hab eben mit deiner Mom geredet, als ich ums Haus gegangen bin. Ich wollte sie überreden, dass ich dich auf ein Panino mit nach Duluth nehmen darf, aber sie hat Nein gesagt. Ich versuche immer noch, es nicht persönlich zu nehmen.« Sie rümpfte die Nase, als ich bei ihr ankam. Dann gingen wir zusammen weiter zum Haus.
»Ja, ich versuche auch gerade zu vergessen, wie sauer ich eben noch auf sie war«, entgegnete ich. Isabel wartete darauf, dass ich die Verandatür für sie aufschob. Sie fragte nicht, warum ich sauer gewesen war, und das hatte ich auch gar nicht erwartet. Isabel war immer sauer auf ihre Eltern, darum wurde so was von ihrem Radar nicht als ungewöhnlich registriert. »Ich kann mich ja mal an Panini versuchen, aber ich glaube nicht, dass wir das richtige Brot dafür dahaben.« Doch eigentlich hatte ich gar keine Lust dazu.
»Ich warte lieber, bis ich mal wieder ein Original kriege«, sagte Isabel. »Lass uns einfach Pizza bestellen.«
In Mercy Falls bedeutete »Pizza bestellen«, bei Mario, der einzigen Pizzeria in der Umgebung, anzurufen und sechs Dollar Liefergebühr zu blechen. Nach Sams Geburtstagsgeschenk war mir das einfach zu teuer.
»Ich bin pleite«, sagte ich bedauernd.
»Ich aber nicht«, erwiderte Isabel, als wir ins Haus gingen, und Mom, die noch immer mit Sams Buch auf dem Sofa rumlag, blickte ruckartig hoch. Gut. Hoffentlich dachte sie, dass wir über sie redeten.
Ich sah Isabel an. »Lass uns in mein Zimmer gehen. Bestellen wir denn jetzt –«
Isabel schnitt mir mit einer knappen Geste das Wort ab. Sie hatte schon ihr Handy am Ohr und bestellte bei Mario eine große Champignon-Käse-Pizza. Noch auf der Matte an der Hintertür kickte sie ihre hochhackigen Stiefel von den Füßen und flirtete währenddessen auf Teufel komm raus mit dem Typen am anderen Ende der Leitung.
In meinem Zimmer kam es mir im Vergleich zu draußen unerträglich warm vor. Ich schälte mich gerade aus meinem Pullover, als Isabel ihr Telefon ausschaltete und sich seitwärts auf mein
Weitere Kostenlose Bücher