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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ich sogar fast Grace’ Krankheit vergessen können.
    Nach einer Weile griff ich über den Nachttisch, wo ein Buch mit abgestoßenen Ecken neben dem Radiowecker lag. Wie oft musste man ein Buch gelesen haben, damit es so aussah? Als wäre es unter einen Schulbus geraten, gleich nachdem es jemand mit in die Badewanne genommen hatte. Es waren Gedichte – Rainer Maria Rilke im deutschen Original mit der englischen Übersetzung daneben. Das klang nicht sehr verlockend und für gewöhnlich stellte jede Art von Lyrik für mich definitiv eine der Vorstufen zur Hölle dar. Jetzt aber hatte ich nichts anderes zu tun, also nahm ich das Buch und schlug es auf.
    Es klappte wie von selbst auf einer Seite mit Eselsohr auf, deren Rand mit blauen, handschriftlichen Notizen übersät war. Ein paar Zeilen waren unterstrichen: »Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. « Am Rand hatte sich jemand in einer krakeligen Handschrift, die ich nicht kannte, ein paar Notizen zu Wortbedeutungen wie findigen oder gedeuteten gemacht. Drum herum noch weitere Anmerkungen und immer mal wieder ein Fitzel Deutsch. Ich hob das Buch näher vors Gesicht, um eine winzige Notiz in einer Ecke zu entziffern, als mir aufging, dass das Buch Sam gehören musste, denn es roch nach Becks Haus. Der Geruch ließ einen Schwall von Erinnerungen in mir aufflackern: Jack, wie er in einem Bett lag und sich vor meinen Augen in einen Wolf verwandelte, wie er vor meinen Augen starb.
    Ich sah wieder auf die Seite: » O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt. «
    Aha, das trug jetzt auch nicht dazu bei, dass ich Lyrik lieber mochte als vorher. Ich stellte das Buch zurück auf den Nachttisch und legte die Wange wieder auf die Tagesdecke über dem Kopfkissen. Auf dieser Seite musste Sam geschlafen haben, wenn er sich reingeschlichen hatte, denn ich erkannte seinen Geruch wieder. Der hatte echt Nerven gehabt, jede Nacht hier zu schlafen, nur um mit Grace zusammen zu sein. Ich stellte ihn mir vor, wie er hier lag, Grace neben ihm. Ich wusste, wie es war, wie sie sich küssten – wie Sams Hände sich an Grace’ Rücken pressten, wenn er sich unbeobachtet fühlte, und wie dann die ganze Härte aus ihrem Gesicht verschwand. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie sich hier küssten und aneinanderschmiegten. Wie sich ihr Atem vermischte. Lippen, die über Hälse, Schultern und Fingerspitzen glitten. Plötzlich verspürte ich einen nagenden Hunger, auf etwas, was ich nicht hatte und auch nicht in Worte fassen konnte. Ich musste an Coles Hand auf meinem Schlüsselbein denken und wie heiß sich sein Atem in meinem Mund angefühlt hatte. Und auf einmal wusste ich, dass ich ihn morgen anrufen, ihn irgendwie ausfindig machen musste – egal, wie.
    Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch und versuchte, mein vernebeltes Bewusstsein von dem Gedanken an Hände, die über Hüften strichen, und Sams Geruch im Kopfkissen loszureißen. Dann sagte ich: »Was Sam wohl gerade macht?«
    Grace hielt die Seite, die sie gerade las, zwischen zwei Fingern. Ihre Stirn war jetzt nicht mehr gerunzelt – meine Worte hatten den konzentrierten Ausdruck aus ihrem Gesicht gewischt und durch etwas wie Unsicherheit ersetzt. Innerlich verpasste ich mir mehrere Tritte in den Hintern dafür, dass ich immer alles laut sagen musste, was ich dachte.
    Grace ließ die Seite los und strich sie sorgfältig glatt. Dann fuhr sie sich mit den Fingern über ihre geröteten Wangen, als wollte sie das Gleiche mit ihrer Haut tun.
    »Er hat gesagt, er will heute Abend versuchen, mich anzurufen«, antwortete sie schließlich.
    Sie sah mich immer noch so seltsam verunsichert an, also fügte ich hinzu: »Ich hab nur gerade überlegt, ob wohl außer ihm schon irgendwelche Wölfe wieder Menschen sind. Ich hab einen von ihnen kennengelernt.« Diese Aussage war so nah an der Wahrheit, dass selbst ein Bischof nicht rot geworden wäre.
    Grace’ Gesicht entspannte sich. »Ich weiß. Sam hat mir von ihm erzählt. Und du hast ihn wirklich kennengelernt?«
    Scheiß drauf. Dann erzählte ich es ihr eben. »Ich hab ihn zu Beck gebracht, in der Nacht, als du ins Krankenhaus musstest.«
    Ihre Augen wurden groß, doch bevor sie weiterfragen konnte, läutete es an der Tür – ein widerwärtig lautes, mehrstimmiges Gebimmel, das gar nicht mehr aufzuhören

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