Ruht das Licht
sondern schien mich aus sicherer Entfernung zu beobachten. Ein Teil von mir hätte gern gesehen, welcher Wolf es war, doch der Rest freute sich zu sehr darüber, dass dieser Wolf überhaupt da war, als dass ich das Risiko eingegangen wäre, ihn zu verscheuchen. Also gingen wir einfach so weiter – ich mit gleichmäßigen Schritten, der Wolf in kurzen, heftig raschelnden Etappen, um mit mir mitzuhalten.
Die Sonne, die über mir durch die noch nackten Zweige brach, wärmte meine Schultern und ich streckte beim Laufen beide Arme aus, um so viel davon aufzusaugen, wie ich nur konnte. Ich wollte den Gedanken an das Fieber von vorletzter Nacht vertreiben. Doch je weiter ich mich von der Quelle meines Ärgers entfernte, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte.
Während ich durch das Unterholz stapfte, erinnerte ich mich an den Tag, als Sam mich zu der goldenen Lichtung mitten im Wald gebracht hatte, und ich wünschte, er würde jetzt bei mir sein und meinem ungewöhnlich schnellen Herzschlag lauschen können. Wir verbrachten zwar nicht unsere gesamte Zeit miteinander und ich wusste mich auch ohne ihn zu beschäftigen – er hatte seinen Buchladen, ich die Schule und meinen Nachhilfejob –, aber in diesem Moment hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Das Fieber war weg, ja, aber irgendetwas sagte mir, dass es nicht für immer war. Es kam mir so vor, als könnte ich es noch immer raunen hören, in meinem Blut, wo es darauf wartete, wieder auszubrechen, wenn die Wölfe das nächste Mal riefen.
Ich ging weiter. Der Wald lichtete sich ein wenig, die jungen Schösslinge hatten hier kaum eine Chance zwischen den riesigen Kiefern. Der Geruch des Sees wurde stärker und ich sah den Pfotenabdruck eines Wolfs in der weichen Erde des Waldbodens. Ich fröstelte unter dem düsteren Grün der Kiefern, das kein Sonnenlicht durchließ, und schlang die Arme um mich selbst.
Links von mir sah ich eine blitzartige Bewegung: ein braun-grauer Pelz, dieselbe Farbe wie die Kiefernstämme. Dann sah ich den Wolf, der mich die ganze Zeit begleitet hatte, als er schließlich lange genug stehen blieb, dass ich einen genaueren Blick auf ihn erhaschen konnte. Er wich nicht zurück, als ich seine leuchtend grünen, menschlichen Augen und die neugierig aufgestellten Ohren betrachtete. Hinter ihm sah ich den See durch die Bäume glitzern.
Bist du einer von den neuen Wölfen?, fragte ich in Gedanken. Ich sagte es nicht laut, damit meine Stimme ihn nicht verschreckte. Er hob die Schnauze in meine Richtung und ich sah, wie seine Nasenlöcher bebten. Ich glaubte zu wissen, was er wollte: Langsam hob ich die Hand und streckte sie ihm entgegen, die Handfläche nach oben gewandt. Er fuhr zurück, wohl mehr vor dem Geruch als vor der Bewegung, denn seine Nase zuckte auch weiterhin.
Ich brauchte die Hand gar nicht erst an meine eigene Nase zu heben, um zu wissen, was er witterte. Ich konnte es auch so noch riechen. Den süßen, leicht fauligen Duft von Mandeln, der sich zwischen meinen Fingern und unter meinen Nägeln festgesetzt hatte und noch unheilvoller war als das Fieber selbst. Dies ist mehr als bloß Fieber, schien er mir sagen zu wollen.
Das Herz hämmerte mir in der Brust, aber ich hatte noch immer keine Angst vor dem braunen Wolf. Ich setzte mich auf den Waldboden und schlang die Arme um meine Knie. Meine Glieder hatten plötzlich angefangen zu zittern, entweder durch die Erkenntnis oder das Fieber.
Ich hörte eine wahre Geräuschexplosion, als eine Schar Vögel aus dem Unterholz aufstob. Der Wolf und ich zuckten gleichermaßen zusammen. Ein grauer Wolf, der die Vögel aufgeschreckt hatte, kam langsam näher. Er war größer als der braune, aber lange nicht so mutig. In seinen Augen las ich Neugier, doch seine Ohren wie auch sein Schwanz drückten Argwohn aus, als er heranschlich. Auch seine Nase zuckte, als er beim Näherkommen die Luft einsog.
Ich sah reglos zu, als auch ein schwarzer Wolf – das musste Paul sein – hinter dem grauen auftauchte, gefolgt von einem anderen Wolf, den ich nicht kannte. Sie bewegten sich wie ein Schwarm Fische, drängten sich dicht zusammen, stießen immer wieder aneinander, kommunizierten lautlos. Schon bald waren sechs Wölfe um mich versammelt. Alle blieben in sicherem Abstand zu mir, beobachteten mich schnüffelnd.
Tief in mir begann das Etwas, das mein Fieber verursacht und meine Haut mit diesem Geruch getränkt hatte, zu summen. Es tat nicht weh, zumindest im Moment nicht,
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