Ruht das Licht
Also, ich find’s immer noch extrem unfair, dass Victor kein Mensch bleiben kann und ich kein Wolf. Das sollte echt andersrum sein.«
Ich versuchte, bei meiner Antwort nicht allzu gereizt zu klingen. »Ja, ich hab’s kapiert. Du willst ein Wolf sein. Du willst nicht Cole sein. Du willst ein Wolf sein. Das hast du mehr als deutlich gemacht. Blöderweise kenne ich aber keine magische Formel, die dafür sorgt, dass du einer bleibst. Tut mir leid.« Ich sah, dass neben ihm auf der Arbeitsplatte eine Flasche Whiskey stand. »Wo hast du die her?«
»Aus dem Wohnzimmerschrank«, antwortete Cole fröhlich. »Stört’s dich etwa?«
»Ich bin nicht gerade scharf drauf, dass du dich hier betrinkst.«
»Und ich bin nicht gerade scharf drauf, nüchtern zu bleiben«, entgegnete Cole. »Außerdem hast du mir immer noch nicht erklärt, warum du überhaupt so ein Problem damit hast, dass ich ein Wolf sein will.«
Ich wandte mich von ihm ab, um mir über der Spüle das Mehl von den Fingern zu schrubben, das sich in Verbindung mit dem Wasser sofort in Klebstoff verwandelte. Ich überlegte, was ich sagen sollte, während ich mir langsam und gründlich die Hände wusch. »Ich hab sehr viel durchgemacht, um ein Mensch bleiben zu können. Und ich kenne jemanden, der bei dem Versuch gestorben ist. Ich würde alles geben, um meine Familie jetzt bei mir zu haben, aber sie müssen den Winter da draußen im Wald verbringen und wissen gerade noch nicht mal, wer sie sind. Ein Mensch zu sein, ist ein …« Ich hätte beinahe außergewöhnliches Privileg gesagt, fand dann aber, das klänge zu pompös. »Als Wolf hat das Leben überhaupt keine Bedeutung. Wenn man keine Erinnerungen hat, ist es so, als hätte man nie existiert. Es gibt nichts, was man zurücklässt. Muss ich dir wirklich erklären, was das Großartige am Menschsein ist? Das ist doch alles, was zählt. Wieso sollte man das wegwerfen wollen?«
Ich sagte nichts von Shelby. Shelby, dem einzigen anderen Menschen, den ich je gekannt hatte, der auch lieber ein Wolf geblieben wäre. Ich wusste, warum sie ihr Menschenleben hinter sich lassen wollte. Was allerdings nicht hieß, dass ich ihre Meinung teilte. Trotzdem hoffte ich für sie, dass ihr Wunsch in Erfüllung gegangen und sie nun für immer ein Wolf war.
Cole nahm einen Mundvoll Whiskey, schluckte ihn herunter und schüttelte sich. »Damit hast du eigentlich schon alles erklärt. Man erinnert sich an nichts, genau. Verdrängung ist doch eine fantastische Therapie.«
Ich drehte mich zu ihm um. Er erschien fast unwirklich in dieser Küche. Die meisten Menschen besaßen eine Art erworbener Schönheit – je länger man sie kannte und je lieber man sie mochte, desto besser sahen sie aus. Aber Cole hatte sich mit seiner schroffen Hollywoodschönheit ungerechterweise direkt bis zum Spielende durchgemogelt, ohne die Liebe seiner Mitmenschen überhaupt nötig zu haben.
»Finde ich nicht«, erwiderte ich. »Ich finde nicht, dass das ein guter Grund ist.«
»Wirklich nicht?«, erkundigte sich Cole interessiert. Es überraschte mich, dass keinerlei Bosheit in seinem Gesicht lag, nur vage Neugier. »Und warum gehst du dann immer nur im oberen Badezimmer pinkeln?«
Ich sah ihn an.
»Was, dachtest du, ich hätte das nicht gemerkt? Na klar. Du gehst zum Pinkeln immer da rauf. Ich könnt’s ja verstehen, wenn das untere Bad irgendwie eklig wäre, aber ich finde, es sieht ganz in Ordnung aus.« Cole sprang von der Theke und landete etwas unsicher auf den Fliesen. »Darum denke ich, dass es an der Badewanne liegt. Du willst sie nicht sehen. Stimmt’s?«
Ich wusste nicht, woher er meine Geschichte kannte, aber sie war ja schließlich auch kein Geheimnis. Vielleicht hatte Beck sie ihm erzählt, obwohl mich der Gedanke irritierte. »Das ist ja wohl relativ unerheblich«, verteidigte ich mich. »Badewannen zu meiden, weil die Eltern versucht haben, einen in so einem Ding umzubringen, ist nicht dasselbe, wie sein ganzes Leben zu meiden, indem man zum Wolf wird.«
Cole grinste mich an. Ein ziemlich gut gelaunter Cole, dank Alkohol. »Wie wär’s mit einem Deal, Ringo? Du gehst dieser Badewanne nicht mehr aus dem Weg und ich tu dasselbe mit meinem Leben.«
»Mmhmm, klar.« Seit der Sache mit meinen Eltern war ich nur ein einziges Mal in einer Badewanne gewesen, und zwar letzten Winter, als Grace mich hineingesetzt hatte, um mich wieder warm zu kriegen. Aber da war ich auch schon fast ein Wolf gewesen. Ich hatte kaum gewusst, wo ich war. Und
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