Ruht das Licht
und ich will, dass du aufs College gehst, und ich muss – irgendwer muss – ich weiß einfach nicht, was jetzt von mir erwartet wird, aber es kommt mir alles so … riesig vor. Ich weiß nicht, wie viel von alldem Beck von mir erwartet hätte und wie viel ich einfach selbst von mir erwarte. Ich bin nur so …« Seine Stimme erstarb und ich wusste nicht, wie ich ihn trösten sollte.
Ein paar lange Minuten fuhren wir schweigend dahin. Im Hintergrund spielte eine Gitarre einen schnellen, fröhlichen Rhythmus, draußen huschten endlos weiße Streifen am Auto vorbei. Sam legte die Finger an seine Oberlippe, als wäre er selbst erstaunt darüber, dass er mir von seiner Unsicherheit erzählt hatte.
»Still Waking Up« ,sagte ich.
Er sah mich an.
»Dein Album. Still Waking Up. «
Sein Blick war durchdringend. Vielleicht auch überrascht, weil ich offenbar den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Genau so fühlt es sich an. Genau so. Irgendwann werde ich mich bestimmt dran gewöhnt haben, morgens aufzuwachen und sicher zu sein, dass ich den Rest des Tages ein Mensch sein werde. Den Rest aller Tage. Aber bis dahin stolpere ich nur so vor mich hin.«
Ich sah zu ihm hinüber und fing seinen Blick auf. »Das macht doch jeder. Eines Tages begreifen wir alle, dass wir nicht immer Kinder sein können und erwachsen werden müssen. Du musstest einfach nur ein bisschen länger auf diesen Moment warten als die meisten anderen. Du schaffst das schon.«
Sams Lächeln war zaghaft, aber ehrlich. »Du und Beck, ihr seid echt aus dem gleichen Holz geschnitzt.«
»Deswegen hast du uns beide wohl so gern«, vermutete ich.
Sam griff einen imaginären Gitarrenakkord auf seinem Sicherheitsgurt und nickte. Eine Weile später sagte er nachdenklich: »Still Waking Up. Eines Tages schreibe ich einen Song für dich, Grace, und so nenne ich ihn dann. Und dann benenne ich mein Album danach.«
»Weil ich so unglaublich weise bin?«, fragte ich.
»Genau«, sagte Sam.
Dann sah er aus dem Fenster und darüber war ich froh, weil ich so schnell ein Taschentuch aus der Hosentasche kramen konnte, ohne dass er es mitbekam. Meine Nase hatte angefangen zu bluten.
KAPITEL 32
ISABEL
Bei jedem dritten Schritt explodierte mir der Atem aus dem Mund. Ein Schritt, um einen kalten Mundvoll Luft einzuatmen. Ein Schritt, um ihn wieder rauszulassen. Ein Schritt, ohne zu atmen.
Ich war schon viel zu lange nicht mehr joggen gewesen und schon gar nicht so weit. Ich war immer gerne laufen gegangen, weil ich dabei nachdenken konnte, weit weg von zu Hause und von meinen Eltern. Doch seit Jack tot war, hatte ich nicht mehr nachdenken wollen.
Das war jetzt anders.
Also ging ich wieder joggen, obwohl es dafür eigentlich viel zu kalt war und ich ziemlich außer Form. Trotz meiner neuen super gefederten Laufschuhe taten mir höllisch die Schienbeine weh.
Ich rannte zu Cole.
Selbst wenn ich besser in Form gewesen wäre, von mir zu Hause bis zu Beck wäre es zu weit gewesen. Also parkte ich drei Meilen von dort entfernt, machte in dem dünnen Nebel ein paar Aufwärmübungen und lief los.
Während der drei Meilen hätte ich genug Zeit gehabt, meine Meinung wieder zu ändern. Aber jetzt war ich fast da, ich konnte das Haus schon sehen, und rannte noch immer. Ich sah wahrscheinlich furchtbar aus, aber was machte das schon? Schließlich wollte ich bloß mit ihm reden und dabei war mein Aussehen ja wohl egal, oder?
Die Auffahrt war leer. Sam war schon weg. Ich war nicht sicher, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Wahrscheinlich war das Haus also vollkommen verlassen, denn Cole war vermutlich ein Wolf.
Und wieder konnte ich nicht sagen, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht war.
Ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt wurde ich langsamer und hielt mir beim Gehen die stechende Seite. Als ich die Hintertür erreichte, war ich fast schon wieder zu Atem gekommen. Ich drehte probeweise den Türknauf, der sich tatsächlich bewegte, und die Tür ging auf.
Ich trat ins Haus und wollte schon Hallo rufen, als mir einfiel, dass vielleicht nicht nur Cole gerade ein Mensch war. Also blieb ich erst mal in der dunklen Ecke an der Hintertür stehen und blinzelte in die hellere Küche. Ich dachte an die Stunden, als ich in diesem Haus gesessen und zugesehen hatte, wie Jack starb.
Grace konnte mir noch so oft erzählen, dass es nicht meine Schuld war. Solche Worte bedeuteten rein gar nichts.
Ein plötzliches Rumpeln ließ mich zusammenfahren. Einen
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