Ruinen der Macht
Austin legte es beiseite und setzte sich neben den Captain. Manfred war etwa ebenso alt wie der Baron, aber ständiges Training hielt ihn in Hochform. Falls er jemals irgendeine Belastung fühlte, hatte Austin das noch nie bemerkt, weder auf dem Schlachtfeld noch außerhalb. Durch Manfred Leclercs Adern schien Eiswasser zu fließen, von den Zehenspitzen bis hinauf zum 190 Zentimeter höher liegenden Gehirn.
Wie die anderen Soldaten der 1KL auch, trug er das strohblonde Haar kurz, aber dank buschiger Augenbrauen, die wie die Enden eines peitschenden Taus zuckten, wenn er sprach, wirkte er vergleichsweise haarig. Ein Aspekt im Aussehen seines Vorgesetzten, der Austin besonders zusagte, war dessen große Nase. Sie war nach einem Bruch so ungeschickt geschient worden, dass Austin bei ihrem Anblick seinen eigenen Gesichtserker vergaß.
Manfreds muskulöse Hände schlossen sich um das Messgerät.
»Machen Sie sich Sorgen, weil Sie die 1KL verlassen sollen?«, fragte der Captain. »Nein, das ist es nicht allein«, beantwortete er seine eigene Frage. »Da ist noch etwas.«
Austin hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass Manfred seine Gedanken lesen konnte.
Er schaute sich in der Materialkammer um und atmete tief ein. Ein halbes Dutzend Lanciers arbeitete mit Laserschweißbrennern an Krötenrüstungen und verursachte einen scharfen Ozongeruch, der das übliche Aroma von Leder, Metall und Lötblei erschlug. Austin bemerkte, wie präzise die Handgriffe rund um den großen Arbeitstisch mit der tiefschwarzen Platte waren. Viele der Ersten Kosaken-Lanciers hatten sich durch die Ränge hochgearbeitet und als Techs angefangen, bevor sie sich für die angesehene Aufgabe qualifizierten, den Gouverneur zu beschützen. Jetzt, da der Baron überlegte, die 1KL dem Befehl des Präfekten zu unterstellen, schien es Austin, als würde sich all diese Mühe, all diese Loyalität, bald als verschwendet herausstellen.
Der stämmige Einheitskommandeur ließ die Knöchel knacken und winkte Austin beiseite. Mit leiser Stimme, ganz anders als sein gewöhnlicher Befehlston, fragte er: »Was haben Sie darüber gehört?«
»Über die Aufstände?«
»Sie wissen, wovon ich rede«, widersprach Manfred ungeduldig. Seine blauen Augen fixierten Austin. »Über die Verlegung. Ist das wahr?«
Austin zögerte. Der Leibgarde-Captain neigte nicht dazu, auf haltloses Gerede hereinzufallen. Der junge Ortega kannte keinen Offizier, der die Welt so realistisch sah wie er, aber dieses Gerücht klang ausgesprochen handfest.
»Ich weiß es nicht, Manfred«, antwortete er unbehaglich. »Dale und ich waren dabei, als mein Vater dem Legaten sagte, er denke über dessen Vorschlag nach, er habe aber noch keine Entscheidung gefällt.« Selbst falls die 1KL unter Tortorellis Befehl kam, wollte Austin bei der Einheit bleiben.
»Ich habe von Freunden gehört, dass bereits Gelder verschoben werden. Gelder, die wir für neue Gefechtspanzer und eine Lanze Schweberäder bekommen sollten. Das bedeutet, der Gouverneur schickt uns zum Teufel!«
»Vielleicht hat er ganz etwas anderes vor«, suchte Austin nach einem rettenden Strohhalm. Als er die Resignation auf Manfreds Zügen sah, riss er die Augen auf.
»Was sollte das denn sein? Ach, egal. Möglicherweise ist es sogar besser für die Moral der Truppe, wenn wir dem Legaten unterstellt werden. Der Gouverneur unternimmt einfach zu wenig, um den Aufruhr zu beenden. Nennen wir es beim Namen, Austin: Es ist ein Aufstand. Keine >zivile Unruhe<. Das klingt zu harmlos. Auf den Straßen sterben die Leute. Vielleicht könnten wir endlich ausrücken und der Gewalt ein Ende machen, wenn wir dem Legaten unterstellt wären.«
Austin setzte zu einer Entgegnung an, dann presste er die Lippen zusammen. Er war derselben Meinung wie sein Captain - bis zu einem gewissen Punkt zumindest. Sergio Ortega brauchte eine Leibgarde dringender als je zuvor, doch sein Vater schuldete es der Bevölkerung Mirachs und der Republik, die Ordnung wiederherzustellen, so gut er irgendwie konnte, ungeachtet der persönlichen Risiken, die er dabei einging.
»Ich lasse es Sie wissen, wenn ich etwas erfahre«, versprach er.
»Mit uns ist es aus«, erklärte Manfred Leclerc. »Ich spüre es in den Knochen. Wir werden Tortorelli unterstellt und Sie sind im Stab Ihres Vaters besser aufgehoben. Es war schön, mit Ihnen zu dienen.« Der Captain streckte ihm überraschend die Hand entgegen. Austin schüttelte sie automatisch und starrte Leclerc überrascht an.
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