Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
mit dem Bus nach Ülemiste, dem Flughafen.
In Budapest ergaben sich die nächsten Probleme. Wie würde ich denn jetzt von hier wegkommen? Ich hatte zwar noch von der Herreise ein paar Forint übrig, aber die würden kaum für ein Bahnticket oder einen Bus reichen. Was tun? Und wie immer in Stresssituationen wurde ich ganz besonders kreativ. Ich ging erst mal Bier trinken, das ist immer die Lösung, für alles. Ich fand eine schöne schmutzige Kneipe, zählte mein Geld, rechnete, es reichte für etwa zwei Bier. Perfekt, dann hatte ich noch ein bisschen Kleingeld, mit dem würde ich einen Freund in Wien anrufen und ihn bitten, mich vom Busbahnhof abzuholen, während ich den Busfahrer nur davon überzeugen musste, dass er sein Geld am Ziel bekomme, der Freund würde mich auslösen, schlafen würd ich in irgendeinem vollgepissten Park, das war mir auch schon egal.
In der Kneipe spielten sie «Yes Sir, I can Boogie» von Baccara. Neben mir am Tresen hielt sich ein etwa sechzigjähriger Mann an seinem Bier fest und gab eigenartige, erstickte Klagelaute von sich, bei jeder Bewegung, die er tat, wenn er mit dem Arm seinen Bierkrug hob, wenn er seinen Kopf bewegte, es war, als stöhnten seine Gelenke. Nach jedem zweiten Schluck warf er sich eine Pastille in den Mund. Ich fragte ihn auf Englisch, was er denn habe, er sagte, ich könne ruhig Deutsch reden, er komme aus Darmstadt, und es gehe ihm wirklich schlecht, sehr sehr schlecht, er leide an einer schrecklichen Krankheit (was es war, weiß ich nicht mehr, ich habe es vermutlich, oder ganz sicher sogar, verdrängt) und sei unheilbar krank, bald werde er sterben, und er sei nach Budapest gekommen, um das hier von eigener Hand zu erledigen, morgen wolle er sich von der Kettenbrücke stürzen. Warum Budapest, fragte ich, und er sagte, er habe so viele schöne Erinnerungen an die Stadt, seine Frau habe er hier kennengelernt. Wo die denn jetzt sei? Ach, die sei abgehauen, habe ihn alleingelassen, erzählte er immer wieder aufstöhnend, es war so furchtbar. Er lud mich zu weiteren Bieren ein, ich erzählte ein bisschen, um ihn abzulenken, von meiner Reise, Heidi und Lisi und so weiter, und dass ich morgen nach Wien führe, wo wir auch eine Kettenbrücke hätten, die aber nicht sehr hoch sei, man breche sich allenfalls ein Bein, wenn man von ihr in das darunter fließende Rinnsal springe, aber das war kein Trost, natürlich nicht, ich kann überhaupt nicht gut trösten. In meinem Kopf stöberte ich nach besseren Troststrategien. Das Leben ist schön, schöne Länder, gutes Essen, Filme, mir fielen aber nur die depressiven von Kaurismäki ein und das schlechte finnische Essen. Reden, reden, immer nur reden, gegen seine Schmerzen anreden, sie weglabern, ich kam mir schäbig vor. Er fragte, und man merkte, dass ihm auch das Sprechen Schmerzen bereitete, vielleicht sogar das Denken, wo denn meine Unterkunft sei, und ich sagte, dass ich mir irgendeinen Park suchen würde, in der Nähe des Busbahnhofs, den ich auch noch finden müsse, morgen früh wolle ich einen Bus nehmen. Da meinte er, ich könne in seinem Hotel schlafen, er habe in seinem Zimmer eine Couch. Alles, was ich in Helsinki hätte lernen müssen, Vorsicht, Skepsis, das war jetzt plötzlich wieder weg, bin ich so naiv oder waren seine fast schon sichtbaren Schmerzen so überzeugend? Ich ging tatsächlich mit, und er schleppte sich die Stufen zu seinem Zimmer hinauf, ich hinterher, mit meiner Aktentasche mit losem Henkel. Aber auf dem Zimmer ging es weiter mit seinem Klagen, er legte sich ins Bett, ich mich auf die Couch, und das Stöhnen hielt die ganze Nacht an. Ich versuchte zu schlafen, das ging immer nur in kurzen Intervallen, aber was wollte ich mich beklagen? Es gibt Schlimmeres als Schlafentzug, und das Schlimmere lag hier zwei Meter weiter entfernt von mir. Irgendwann am frühen Morgen schien auch er weggedämmert zu sein (oder war er tot?), aber ich war munter, zog mich leise an, verließ das Zimmer und war wieder einmal frei. Frei, wenn auch bedrückt, gleichzeitig aber zuversichtlich, dass die letzte Etappe jetzt nun wirklich keine Probleme mehr bereiten sollte. Ich trottete zum Busbahnhof, wollte mich durchfragen, hatte absolut keine Vorstellung, wo der wohl war. Plötzlich stoppte ein Taxi neben mir. Der Fahrer fragte etwas, ich sagte in Stummelenglisch, dass ich zum Bus wolle, der Bus nach Wien. Er deutete an, ich solle einsteigen, o.k., machen wir es uns jetzt nicht noch schwerer, gönnen wir uns ein
Weitere Kostenlose Bücher