Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
ohne Mauer sieht, ich musste hin, SOFORT!
Ich bin 2011 fünfzig Jahre alt geworden, kein Grund, ein großes Gewese zu machen, aber mir ist aufgefallen, dass verblüffend viele Melancholiker zusammen mit mir fünfzig wurden (bei mir ist es ja eher die Schwerblütigkeit des Übermüdeten, eines Mannes, der höchstens ein bisschen Restleidenschaft entwickelt, wenn er Gelegenheit bekommt, Listen zusammenzustellen): Leif Garrett (sang für Ron L. Hubbard, dann mit den Melvins, jetzt Crackhure), Forest Whitaker (Ptosis-Auge), Michael J. Fox («Hallo McFly, jemand zu Hause?»), Klaus Nüchtern (Vizepräsident der Cloud Appreciation Society), Boy George («Do you really want to make me cry?», kehrt jetzt die Straßen von London), Dave Mustaine (bei Metallica rausgeflogen, musste weinend mit dem Bus von LA heim nach NY fahren), Tim Roth (Gary Oldmans kleiner gehänselter Bruder in der Skinheadposse «Meantime», Roths bestem Film), Scott «Wino» Weinrich («Every time I’m on the street / People laugh and point at me / They talk about my length of hair / And the out of date clothes I wear»), Christiane Rösinger («Mein zukünftiger Exfreund»), K. D. Lang («Crying»), Kati Outinen («Das Mädchen aus der Streichholzfabrik»), Sophie Rois (Ottensheim/Oberes Mühlviertel), Ricky Gervais (Wernham Hogg/Slough), Bobo (Der Ausbrecherkönig), Jeffrey Dahmer, Lady Diana Spencer, Sven Regener, Nastassja Kinski, Ulrike Folkerts, Enya, Berliner Mauer, und äh, Eddy Murphy («Bowfingers große Nummer»). Der zehn Jahre jüngere ZEIT-Redakteur und Neoberliner Ijoma Mangold, der sich als Regierungszuzugs-Berliner beschreibt, also als einen, der vor dem Mauerfall nie in diese Stadt gezogen wäre, meinte zu meiner Liste: «Tex, Sie fahren da wirklich schweres Geschütz auf, aber mich beschleicht der Verdacht, Sie haben genussvoll und mühsam zugleich so lange gesucht, bis Sie diese dramatische Reihe wasserdicht gekriegt haben. Aber dass auch die Berliner Mauer in dieser Taxonomie auftaucht, ist sehr goldig.» Goldig? Was soll am Schicksal der Mauer weniger bedrückend sein als an jenem Jeffrey Dahmers? So eine «wasserdichte» Ballung an Schwermut kriegt er mit seinem Einundsiebziger-Sanguinikerjahrgang nicht zusammen, es ist doch bloß der Neid, der da aus Mangold spricht.
Vorsatz: Das Erste, was ich mache, sobald ich Berlin betrete, ist, mir eine typische Berliner Zeitung, am besten die BZ, schnappen, blind irgendeine Seite aufschlagen und mich von der ersten Meldung leiten lassen. Das soll mein Motto sein.
Am 13. August komme ich in Berlin an. Ich schlage die Zeitung auf, Seite 13, und da steht im Lokalteil: «Einer der Täter soll einen auffälligen, gelben Anzug getragen haben, ein anderer hatte demnach eine Glatze.»
Ich bin in Berlin, auch mein Anzug ist gelb, und obenrum dünne ich aus. Und soeben ist, wie der Taxifahrer mir schnoddrig zu erzählen sich verpflichtet fühlt, aus dem Zoo ein Gorilla ausgebrochen. Sie haben außerdem den offenbar geisteskranken Feuerteufel festgenommen, der eine Reihe von Kinderwagen in Hausfluren angezündet hat. Motiv: «Schwabenhass». Skepsis wandelt mich und mein Berlinvorhaben an, ob dieser wirren Logik und der verwirrenden Gesamtsituation.
Als Erstes treffe ich Wolfgang Müller. Wir sitzen im Lokal Möbel Olfe, am grauenvollen Kottbusser Tor (Kotti), seinem verlängerten Wohnzimmer, und sie spielen sein Lied: «I’m Forever Blowing Bubbles», Wolfgang war ein Drittel des Musik-Kunst-Kollektivs Tödliche Doris, Künstler, Autor, Islandauskenner, ja, sogar offizieller Elfenbeauftragter und Vorsitzender der Walther von Goethe Foundation in Reykjavík, Erfinder des «Festivals Genialer Dilletanten» (mit dem beabsichtigten Orthographiefehler), er gilt als die Meisenkoryphäe Deutschlands, weshalb ihm der Name Meisenmüller unabwaschbar anhaftet, auch ist er der Librettist des großen Grüblers Andreas Dorau, von ihm stammt die einnehmende «Blaumeise Yvonne» und das traurige Lied vom «Wasserfloh», den die Sonne versehentlich mit dem Wasser aufgesaugt hat und der jetzt in den Wolken wandern muss. Er kam als Siebzehnjähriger nach Berlin, aus der Volkswagenstadt Wolfsburg, sein Vater hatte sich kurz davor aufgehängt, und er war von der Schule geflogen, da war die Mauer gerade einmal sechzehn Jahre alt, stand also noch gut im Saft. «Was ist Berlin, Wolfgang?» Ich erwarte natürlich nicht, dass er mich gegen die Wand laufen lässt, indem er mit dem ranzigen Bonmot kommt,
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