Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Titel: Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tex Rubinowitz
Vom Netzwerk:
Berlin sei eine Wolke, es kommt aber leider schlimmer. Er sagt: «Wer sich nicht ein Pferd auf einer Tomate galoppierend vorstellen kann, ist ein Idiot.» Wie bitte? Müller: «Salvador Dalí.» Aber was hat der Surrealist mit Berlin zu tun? Ist der jetzige Zustand mit einer brennenden Giraffe, einer weichen Uhr vergleichbar? «Hat jemand an die Klowand geschrieben.» Aha, also keine charmanten Obszönitäten auf Berliner Abtritten wie «Ich ficke mein eigenes Knie und treibe ab – aus Rache», wie ich es gerade eben im Flugzeugklo gelesen habe? Er übergeht die Frage und hält mir einen ausufernden Vortrag über Meisenknödel – mitten im Sommer. Es gebe ja Leute, die büken sich selbst Salzstangen oder brauten sich ihre eigene Cola, er forme sich eben Meisenknödel aus Rindertalg und Körnern für die darbenden gefiederten Freunde im Winter, dafür habe er sogar einmal eine Anzeige bekommen, im Zuge der BSE-Hysterie vor ein paar Jahren, nachdem ihm ein Artikel in der taz vorwarf, er würde die Tiere mit Rinderwahn infizieren.
    Ein Punk kommt auf einem Hund ins Lokal geritten und will uns Salatzangen verkaufen, die er aus Bierdosen gebastelt hat. Müller schmunzelt, das erinnere ihn an seine Anfangszeit in Berlin, er wohnte damals bei Egmont Fassbinder, dem Cousin von Rainer Werner, als jeder irgendwas machte und wartete, dass es irgendwann einmal losgehen würde, aber es ging nie los, Kunst ließ sich nicht verkaufen, weil keiner Geld hatte, alles schielte nach Westdeutschland, doch Westdeutschland kam nicht, ausgenommen immer neuer Ladungen von Studenten, die bis zu ihrem Lebensende Studenten zu bleiben beabsichtigten, saprobiontische Wirtshausschwadroneure und jene, denen ein diffuses Bild von Berlin als einer uterusartigen Behaglichkeit vorschwebte, in der auf ihrer Gedanken Nässe ein süßlicher Schimmel gedeihen kann.
    Müller begann deshalb mit dem Kunstkollektiv Tödliche Doris einen erweiterten Kunstbegriff zu bauen, an einer Art «subjektlosen Abwesenheit» zu arbeiten, wenn schon nichts geht, kann man sich ja auch gleich subtrahieren, irgendwie. So brachten sie auch eine Platte heraus, die gar nicht existiert, die nur entsteht, wenn man die zwei vorher veröffentlichten, physischen, gleichzeitig abspielt, in zwei verschiedenen Häusern, durch zwei geöffnete Fenster. Während Müller zu einem weiteren Monolog ausholen will, beginnt der Salatzangenpunk plötzlich seinerseits zu plappern, er sei aus Suhl, er hätte Bäcker gelernt, leidet unter einer Art «Mehlkrätze», im Dezember wird er fünfzig (also auch einer von uns), im Osten sei er schon «fünfzig gewesen», nein, er lacht, er hat sich versprochen, er meint, er sei schon damals Punk gewesen, der einzige Punk in Suhl. «Toleranz ist für mich Punk», sagt er und «Anarschie» und so was wie «Kacken ohne Abwischen», aber ich kann mich auch verhört haben, sein Dialekt ist wirklich derb. «Ersdemol üborleschn, wie dor Wech dogeschn is, unn nisch dorfir.» Seine Haare habe er mit Klub Kola gefestigt, unter dem Hohngelächter der Vopos musste er mit einem Kamm seine Igelhaare glätten, «eine Zinke fehlte, typisch», wenn Haare liegen (müssen), das war das Schlimmste, und der Rauchzwang immer, alle mussten immer rauchen, selbst in der Kirche, durch seine Mehlallergie habe er aber eine Rauchaversion gehabt. Dass die Mauer fiel, hat er glatt «verschnarscht», eine Woche gar nichts davon mitbekommen, alle seine Kumpels haben rübergemacht, malochen auf den «Spargelfeldern der Schweiz» (im November?), er nennt die Westcola «Vergewaltigtes Wasser». Müller und ich schauen uns an, der Typ ist gerade noch an einer zumutbaren Grenze der Überspanntheit, er verflucht die Grünen/Bündnis 90, weil sie das Dosenpfand eingeführt hätten, schlecht für seine Marge. Ich kaufe ihm eine Zange ab, und er zieht von dannen. Müller murmelt ihm und seinem Hund Mielkes Motto nach: «Wenn drei in einem Raum sind und vier rausgehen, muss einer wieder reinkommen, damit niemand mehr da ist.» Was mach ich mit der Zange jetzt? Ich esse keinen Salat, ich glaub, ich lasse sie im Möbel Olfe, auch wenn Zangen nicht Möbel im eigentlichen Sinne sind.
    Ein kahler, höflicher, leise sprechender Herr taucht auf, setzt sich, nein, biegt sich, gleichsam osmotisch an unseren Tisch heran. Müller stellt uns vor, das sei Mark Ernestus, fragt, ob ich etwas dagegen hätte, dass er ihn für sein Buch «Freizeit. Berliner Subkultur 79–89» interviewt, während ich mein

Weitere Kostenlose Bücher