Rune der Knechtschaft
Hals, wie um sich zu vergewissern, dass ihr Kopf noch festsaß. Lionor lächelte, und einer der Assistenten verbarg seine Erheiterung, indem er den Blick abwandte. Der Hohepriester seinerseits zuckte nicht mit der Wimper. Er verkündete, dass er die Briefe der Zeugen aufmerksam gelesen hätte.
Marikani legte in einfachen Worten dar, was geschehen war, seit sie den Strand betreten hatte. Sie hielt sich nicht damit auf zu schildern, wie sie die Galeerensträflinge gerettet hatte, sondern sagte nur, dass es drei Überlebende des Schiffbruchs gegeben hätte und dass zwei von ihnen sich entschlossen hätten, sie zu begleiten. Dann fasste sie ihre Reise zusammen. Als sie fertig war, ließ der Hohepriester Lionor aufrufen. Sie trat zwischen Halios und Marikani.
»Ehari Lionor Mar-Arajec, Tochter des Pagins Astour«, sagte der Hohepriester.
Die junge Frau verneigte sich.
»Könntet Ihr uns wohl, indem Ihr Euer Herz Um-Akr öffnet, Stück für Stück jedes einzelne Ereignis des Tages erzählen, an dem ihr mit der Angeklagten den Pass überschritten habt?«
Lionor tat mit klarer, volltönender Stimme wie geheißen, und Arekh spürte, wie ihn Übelkeit überkam. Seit seiner Ankunft bei Hofe hatten ihn andere Sorgen beschäftigt, aber trotz des stummen Waffenstillstands erschien ihm die Lüge über Lionors Abstammung immer noch so schwarz wie zuvor. Ja, er war ein Verbrecher, ja, seine Taten hatten schon vor langer Zeit dafür gesorgt, dass die Götter den Blick von ihm abgewandt hatten, aber wenigstens war er ein Mensch, ein Kind, das wie alle anderen unter Lâs Segen geboren war. Lionor … Lionor war - wenn er denn recht hatte, und all seine Sinne riefen ihm zu, dass er recht hatte - die Tochter von Sklaven, eines verfluchten Volks mit schwarzer Seele. Ihre Natur war von Grund auf schlecht, und selbst, wenn sie Marikani aufrichtig liebte, selbst, wenn sie ihr treu ergeben war, konnte ihr Einfluss nur schädlich sein.
Und nun stand sie hier, verschleierte ihre wahre Natur an einem heiligen Ort, den Mitglieder ihres Volkes noch nicht einmal tot betreten durften. Und der Hohepriester sprach einen Namen aus, der nicht der ihre war, und sie verneigte sich, als hätte sie das Recht, diesen Namen zu tragen, obwohl die Statue des Gottes nur einige Schritte entfernt stand.
Darin lag etwas so abgrundtief Böses, dass Arekh die Vorstellung verabscheute. Und wenn er dann noch darüber nachdachte, was er getan hatte … Halios hätte sich ins Fäustchen gelacht, wenn er die Wahrheit gekannt hätte. Die beiden Zeugen, die einzigen lebenden Wesen,
die beweisen konnten, dass seine Behauptungen falsch waren, waren eine verkleidete Sklavin und ein Vatermörder.
Als Lionor zu sprechen aufgehört hatte, wandte sich der Priester Arekh zu. Er trat vor und rechnete mit allem.
Halios ließ ihn nicht warten. »Dieser Mann hat seine Familie niedergemetzelt!«, rief er und deutete auf Arekh. »Von allen Verbrechen hat er das schlimmste begangen, sich das schwärzeste aller Vergehen ausgesucht - und doch wollt Ihr ihn heute anhören? Aus dem Munde dieses Mannes kann nur die Schlange der Lüge hervorkommen!«
Arekh warf ihm einen finsteren Blick zu. »Die Lüge ist die Frucht des Ehrgeizes - nicht die der Gewalt«, verkündete er. »Warum sollte ich es nötig haben, meine Feinde zu belügen, wenn ich sie doch töten kann?«
Kurz herrschte Schweigen; Halios starrte Arekh mit offenem Mund an. Sein Gesicht war hasserfüllt. Ein Gesicht, in dem sich noch der Bluterguss befand, den der Fausthieb vom Vorabend verursacht hatte.
»Die Verbrechen, die der Zeuge begangen hat, hindern das Gericht nicht daran, sein Zeugnis anzuhören, sofern der Zeuge vor Um-Akr schwört, die Wahrheit zu sagen«, verkündete der Hohepriester. »Arekh es Morales von Miras, wir fordern Euch hiermit auf, vor dem Gott zu schwören, dass Ihr nach bestem Wissen und Gewissen aussagen werdet.«
Arekh wiederholte langsam die rituellen Worte und spürte, wie sie in der Luft rings um ihn vibrierten und an diesem geweihten Ort unter dem Blick des Gottes Kraft erlangten. Er begann seinen Bericht seltsam gerührt. Er hatte sich immer gesagt, dass irgendwann ein Tag, an dem er vor Gericht stand, sein Ende sein würde und dass das
Urteil der Götter irgendwann auf ihn herabfahren würde, um ihn in den Abgrund zu werfen, den er so sehr verdiente.
Und nun stand die Um-Akr-Statue neben ihm, und seine Verbrechen waren allen bekannt - und doch war sein Ende noch nicht gekommen, und doch
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