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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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hinhockte.

    Hinter ihm entfernte sich der Mann, ohne Zweifel, um »Arekhs Frau« und die Perle zu suchen. Arekh starrte noch immer ins Dunkel hinab. Es gab dort unten sicher keine Ader reinen weißen Steins: Die gab es nirgendwo. Das Beste, was man finden konnte, war durchscheinender Stein wie der der Brunnenumrandung oder der Mauerreste, auf denen sie entlanggelaufen waren, um den Soldaten zu entkommen. Der reine Stein war eine Legende, eine mehr, wie der Schatz im fließenden Wasser oder die Geschichten vom heilenden Regen. Legenden waren wie Prophezeiungen: Es gab sie wie Sand am Meer. Keine Siedlung, unter deren Hügeln sich kein verlorener Tempel verbarg, kein See ohne versunkene Stadt. Wie Nysis, wo er beinahe gestorben wäre und wohin die Galeere versunken war. Oft handelte es sich nicht ausschließlich um Legenden. Städte und Tempel waren auf anderen Städten und Tempeln errichtet, Ruinen bröckelten unter weiteren Ruinen, Tote fielen auf andere Tote.
    Nein, es gab sicher keine kostbare Gesteinsader, keinen Schatz am Grunde dieses Brunnens … Aber der Nomade hatte im Plural gesprochen. Mehrere Brunnen? Ein Netz von Gängen? Arekh stand auf, drehte sich um und ging ins Lager zurück.
    Hier waren Löcher gegraben und Bergwerke ausgebeutet worden, hier hatten Menschen geliebt, gelitten und sicher auch getötet. Und heute war von all diesen Hoffnungen, diesem Hass, diesen Toten nichts mehr übrig als Nomadenstämme, die Steinsplitter sammelten, um daraus Schmuckstücke zu machen.
    Marikani wartete auf ihn. Mîn und Lionor, die auf einem Felsen saßen, ebenfalls. Ja, sie warteten auf ihn, begriff Arekh. Sie hatten sich sicher schon gefragt, was er ihnen zu sagen hatte.

    Er entfernte sich ein bisschen von den Stammesangehörigen und setzte sich auf einen verlassenen Teppich. Marikani ließ sich gegenüber von ihm nieder, Mîn und Lionor zu beiden Seiten.
    »Der Mann ist wegen der Perle gekommen«, begann Marikani. Ihr Blick ruhte auf der Waffe, als wolle sie ihren Wert einschätzen.
    »Ja, es war teuer. Seltenes hat seinen Preis«, sagte Arekh, um die Frage zu beantworten, die sie nicht gestellt hatte. »Vielleicht ist das hier das einzige ordentliche Schwert im Umkreis von fünfzig Meilen. Und jetzt gehört es mir.«
    »Es ist gut, dass Ihr ein Schwert habt«, sagte Mîn lächelnd. »Wenn wir Wölfen begegnen, wird uns das viel nützen.«
    »Genau über dieses › uns‹ möchte ich sprechen«, sagte Arekh ruhig. Die Blicke der beiden Frauen lasteten schwer und abwartend auf ihm. »Es gibt kein ›wir‹ mehr. Ich werde zwei Tage bei diesem Stamm bleiben, lange genug, um den hiesigen Ragouts die nötige Ehre zu erweisen; dann breche ich auf. Meine Pläne gehen Euch nichts an.«
    Seine Pläne unterschieden sich in Wirklichkeit gar nicht von denen der beiden Frauen: Er wollte ins Tal hinabsteigen, dort heil ankommen und sich dann in den Grauen Landen verlieren. Er hatte nur einfach keinen Grund mehr, sich mit Begleitern zu belasten, die weder zu wandern noch zu kämpfen verstanden, dafür aber seine Nahrung aufzehren würden und vielleicht - gewiss! - immer noch verfolgt wurden. Er hatte es lange genug hinausgezögert - von jetzt an musste er sich von der Vernunft leiten lassen.
    Sie sollten sich schon glücklich schätzen, dass ich sie nicht getötet habe , wiederholte er sich zum zwanzigsten Mal, um
sich gegen die Beleidigungen und flehentlichen Bitten zu stählen, die bestimmt nicht lange auf sich warten lassen würden.
    Sie kamen nicht.
    »Sehr gut«, sagte Marikani langsam und sah ihn an. Ihr Gesichtsausdruck war undurchdringlich. »Sehr gut.«
    Arekh stand auf und ging, um sich an einem anderen Feuer niederzulassen.
     
    Langsam senkte sich zwischen den Bergen die Nacht herab. Die Abenddämmerung war wunderschön gewesen: blutrot und leuchtend, so dass ein Widerschein von Grausamkeit die verschneiten Abhänge hinabgeflossen war. In der Luft lag der Duft von Gewürzen und Pfefferminztee; das Lachen der Kinder und das Geschwätz der Frauen stiegen in die beginnende Dunkelheit auf.
    Arekhs Mutter war an Sommerabenden oft unter das Vordach hinausgetreten. »Es gibt Nächte wie diese, die selbst den Hoffnungslosesten wieder Geschmack am Leben schenken«, hatte sie immer gesagt.
    In dieser Höhe durchlöcherten die Sterne den Himmel wie feine Nadelstiche. Als der erste Mond unter der Rune der Gefangenschaft vorüberging, legte sich das Geschrei der Kinder. Die Stammesangehörigen machten sich bereit, zu Bett zu

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