Rune der Knechtschaft
geringste Rebellion zu; er schlug auch jedem, der ihm widersprach, alle Gliedmaßen eine nach der anderen ab, bevor er ihn dann köpfte, damit die Schmerzenschreie all jene erzittern ließen, die Hoffnungen auf einen Aufstand hegten. Und das Blut floss in Strömen über den Boden des Kaiserreichs, wie es in die Ozeane und über den Weg,
den er auf seinen Eroberungen beschritten hatte, geflossen war. Und in kleinen Bächlein erreichte es schließlich den Fluss, in dem Verella schlief, und besudelte ihr Kleid aus kunstvollen Algenspitzen.
Da öffnete Verella die Augen und begriff, was sie angerichtet hatte. Sie legte ihr Gewand ab und verließ den Fluss, um ihren einstigen Geliebten zu besuchen. Sie trat nackt in seinen Thronsaal, gefolgt von Eleïden mit wellenversilberten Dreizacken und von den Kriegern ihres Bruders, Um-Akr, der für die Gerechtigkeit zuständig ist. Denn sie fürchtete, dass der junge Kaiser sich auch gegen sie wenden könnte, und wollte sich schützen.
›Oh, du mein Geliebter‹, sagte sie mit sanfter Stimme, ›ich habe dir ein Geschenk gemacht, aber dieses Geschenk hat dich zu weit gehen lassen. Sogar mein Bruder kann dir deine Verbrechen nicht zum Vorwurf machen, denn wenn deine Verbrechen dein Herz nicht verwunden, wie kannst du da wissen, dass es sich um Verbrechen handelt? Aber du musst jetzt damit aufhören - du hast deine Träume in die Tat umgesetzt. Auf dieser Welt ist niemand mächtiger und gefürchteter als du. Erlaube mir, deine Stirn zu berühren, um dir die Sicht der Seele zurückzugeben.‹
Aber der junge Kaiser wollte die Sicht der Seele nicht zurückerhalten, er wollte nicht wieder schwach werden; so nahm er sein Schwert, bereit, in seinem Zorn sogar den Göttern selbst zu trotzen. Und er trat auf Verella zu, und die Eleïden hoben ihre Dreizacke, und die Krieger Um-Akrs hoben ihre Äxte - und der junge Kaiser ohne Furcht und Gewissen ließ sein Schwert auf den Kopf der Göttin niedersausen.
Aber das Schwert prallte von Holz ab, denn Verella war nur eine flache Figur aus bemaltem Holz, wie die, die man auf Tavernenschildern sieht - und die Silhouette fiel
polternd auf den Marmorboden des Thronsaals. Daraufhin wandte sich der junge Kaiser den Eleïden zu, und die Eleïden stürzten ihrerseits mit leblosen, schwankenden Holzgesichtern zu Boden, und auch die Krieger Um-Akrs waren nichts als geschnitzte Holzbretter. Der junge Kaiser drehte sich um und bemerkte, dass er auf einer Theaterbühne stand. Er zerrte an dem Wandteppich, der als Kulisse diente, um ihn von den Balken zu reißen, an denen er hing, und als der Teppich fiel, brachen der Palast, seine Säulen und seine Basreliefs zusammen, um nicht mehr als einen staubigen, kleinen Haufen zu bilden.
Da wandte sich der junge Kaiser denjenigen zu, die ihm zusahen, und wusste, dass er eine Entscheidung fällen musste.«
Wieder senkte sich Schweigen über die kleine Versammlung, während der Rauch der Pfeifen in den Nachthimmel aufstieg. Das Wasser, das von den Fackeln und vom Sternenlicht erhellt wurde, plätscherte sanft gegen den Schiffsrumpf.
»Hier endet meine Geschichte«, sagte Marikani mit einem Kopfschütteln.
Dann wandte sie den Blick ab, als frage sie sich, warum so viele Worte aus ihrem Mund gedrungen waren, wohin sie sie geführt hatten und ob sie nicht zu viel gesagt hatte.
Die rothaarige Frau schnaufte, als erwache sie aus einem Traum, und der Herr der Verbannten stand auf, um eine Feldflasche zu holen, die er Marikani reichte. Diese trank einen großen Schluck, bevor sie die Flasche weiterreichte. Als sie bei Arekh ankam, löschte er seinerseits seinen Durst. Das Wasser war mit Orangenblüten und Honig aromatisiert.
»Ihr seid an der Reihe«, sagte der Herr der Verbannten zu Arekh.
Dieser rauchte einen weiteren Zug aus seiner Pfeife. Sein Geist war gedämpft und dickflüssig, wie der Honig im Wasser aus der Feldflasche. Bruchstücke der Geschichte hatten ihn geradewegs ins Herz getroffen, ohne dass er so recht wusste, warum, aber er zweifelte daran, dass er selbst eine Geschichte erzählen konnte, die in der Lage war, den Herrn der Verbannten zufriedenzustellen - oder Hathot, die Geschichten und religiöse Schriften inspirierte.
Dennoch hatte auch Marikani nicht so gewirkt, als sei sie bereit … Und sie hatte nur die Augen schließen müssen, damit Hathots Geist aus ihrem Munde sprach. Ohne Zweifel war das Kraut, das sie rauchten, demjenigen ähnlich, das die Priester verwendeten, um sich dem Göttlichen
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