Rune
hoffte, daß Mom ihn in Gnaden wieder aufnehmen würde. Ich hatte ein gutes Gefühl.
»Es tut mir leid, Chris, wirklich.«
Ich legte einen Arm um ihm. »Vergiß es. Es sind verrückte Tage gewesen.«
Wahrere Worte waren nie gesprochen worden. Und ich fühlte mich so müde, so leer. Als könnte ich eine ganze Woche gebrauchen, nur um wieder zu Atem zu kommen.
25.
Brief von meiner Mutter,
datiert Sonntag, 24. August:
Lieber Chris,
weißt Du, daß dies mein erster Brief an Dich ist? Ich verspreche Dir, daß ich mit dem nächsten nicht wieder achtzehn Jahre warten werde.
Deinem Vater geht es beständig besser, aber das weißt Du ja schon von den Anrufen. Morgen wollen sie ihn aus der Intensivstation entlassen. Er will sich bei Dir nochmals für den Pyjama bedanken. Er sagt, er hätte ihn vor einigen potentiell peinlichen Situationen bewahrt. Er wollte das nicht weiter ausführen, also mußt Du Dir selbst ausmalen, was es bedeuten soll. Er will auch ständig, daß ich ihm gegrillte Rippchen von Duke’s Ribs einschmuggle. Der Mann ist unverbesserlich. Jetzt weiß ich auch, woher du das hast.
Zu Hause stehen die Dinge wieder fast normal. Für eine Weile fühlte ich mich so nervös. Als wäre etwas zu tun, was ich immer vergaß. Doch jetzt geht es mir wieder besser. Und bitte, bitte glaub mir, daß es mir eine große Hilfe war, dich diese Tage hier zu haben.
Auch mit Aaron geht es besser, wir kommen ganz gut miteinander aus. Keine Szenen mehr wie am Donnerstag. Das hat mir weher getan, als ich je sagen kann, Chris. Ich versuche, es zu vergessen. Natürlich habe ich Dad nichts davon erzählt. Es ist unser Geheimnis, in Ordnung? Ich glaube, daß Aaron ein Grund dafür ist, warum ich mich in letzter Zeit so nervös gefühlt habe. Er ist jetzt hilfsbereiter und alles, aber ich habe ständig Furcht, ihm etwas zu sagen, das ihn wieder verletzt. Ich weiß, daß er über seine Arbeit unglücklich ist, aber er schluckt es runter. Was fast noch schlimmer ist, als wenn er es rausließe.
Ich bin schon ’ne großartige Therapeutin, was? Arzt, heile dich selbst. Unser Streit hat mich schwer zum Nachdenken gebracht. Aaron denkt, daß wir Dich ihm vorziehen. Ich kann natürlich nicht für Dad sprechen, doch in meinem Fall weiß ich nicht, ob das so völlig unwahr ist. Es ist nichts, was ich willentlich tue, und bitte, kein Sterbenswörtchen darüber zu Aaron oder Deinem Vater. Aber Chris, Du warst mein erster, und nichts kann das je ändern. Ich habe Dir ja schon erzählt, wie Du mit einem spitzen Kopf geboren wurdest und Deine kleinen Fingernägel Dein Gesicht zerkratzt hatten, und daß ich befürchtete, Du würdest für immer so bleiben. Doch bald war all das verschwunden, und ich wußte, daß Du das schönste Kind der Welt warst. Keine Mutter war je stolzer auf ihr Kind als ich. Ich wollte Dich jedem, den ich traf, zeigen, ob ich ihn kannte oder nicht. Du warst der erste, der mir dieses Gefühl vermittelte, der diese Freude in mein Leben brachte. Der Erstgeborene ist etwas besonderes, das kann ich nicht abstreiten.
Wie ich schon sagte, kein Wort darüber zu Aaron oder Dad. Noch ein Geheimnis zwischen uns. Es war nur etwas, das ich Dir erzählen mußte. Ich habe mich entschlossen, Aaron das Gefühl zu vermitteln, daß ich ihm näher stehe, als er jetzt den Eindruck hat. Nicht, daß ich ihn weniger lieben würde. Nur auf eine andere Art.
Ich lasse Dich jetzt wieder in Ruhe. Lerne gut. Tu mir einen Gefallen und riech wenigstens ab und zu mal an Gemüse. Und wir können es kaum abwarten, Dich am Tag der Arbeit wieder hier zu haben!
In Liebe, Mom
Mittwoch. Nur noch knapp zwei Tage, bis ich wieder nach Hause fahren würde. Moms Brief und ihre Anrufe hatten geholfen, mich aus dem schlaffen Zustand zu reißen, in den ich nach meiner Rückkehr nach Andrews verfallen war. Sie gaben mir Antrieb und halfen, die formlosen Schatten der Furcht, was sich daheim wohl noch entwickeln mochte und welche Rolle ich dabei zu spielen hätte, zu vertreiben.
An diesem Mittwochabend griff ich mir nach dem Essen ein Buch und ging spazieren. Ich kam schließlich im Innenhof des Colleges an. Die Abendschatten nahmen neuen Grund in Besitz, als die Sonne in den Horizont eintauchte. Ich schritt zwischen zwei Gebäuden hindurch und befand mich in der Mitte des Hofes. Tagsüber war er stets voller Studenten, die auf dem Sprung waren oder eine Freistunde hatten, und gelegentlich stand auch ein komischer Kauz auf einer Kiste und sprach
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