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Runen

Runen

Titel: Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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Runen gestoßen. Ließ den Stein mitten in der Nacht abholen und nach Flensburg abtransportieren. Habe tagelang die Runen zu entschlüsseln versucht und mich mit der wahrscheinlichsten Interpretation dieses Teils des Runenspruches abgefunden, obwohl sie mich sehr überrascht.
    Wieder war Melkorka unzufrieden, denn wie beim ersten Mal hatte Höskuldur die Worte nicht vom Runenstein ins Tagebuch übertragen. Sie hatten weiterhin keine Ahnung davon, welche Botschaft sich in den zwei Bruchstücken von Gotatýrs Runenlied verbarg.
    |106| Dann merkte sie, dass Beinteinn nach dem langen Arbeitstag erschöpft war.
    »Ich bring dich heim«, bot sie ihm an.
    »Ja, meine Schöne«, antwortete der Alte. »Wir können den Faden morgen wiederaufnehmen.«
    Er musste sich auf sie stützen, als er in ihren Jeep einstieg.
    »Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen«, sagte er verschmitzt, als sie die Ártúnsbrekka hinunterfuhren. »Ich habe es niemals geschafft, die Fahrprüfung abzulegen.«
    »Wie bitte?«, rief Melkorka. »Du bist nie selbst Auto gefahren?«
    »Aber natürlich, du Anmut in Person, und das sogar berauscht wie völlig nüchtern. Ich habe mir jedoch nie die Zeit genommen, die Fahrprüfung abzulegen. Was kümmert sich der Dichter um weltliche Prüfungen, die von den Bleistiftlutschern und Bürohengsten erdacht werden, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als den schöpferischen Geist mit Haarspaltereien zu ärgern? Die einzigen Prüfungen, denen wir Dichter uns zu unterziehen haben, bestehen darin, unserem Umgang mit dem Weltenfeuer des Geistes standzuhalten und den bezaubernden Göttinnen, in deren Augen der Funke des Liebreizes erglüht.« Beinteinn schaute Melkorka an, die sich auf das Fahren konzentrierte. Dann fügte er mit wehmütigem Blick hinzu: »Unsere Zusammenkünfte sind nun leider viel zu spät erfolgt, mein Schmuckstück, aber genau deshalb kann ich bereitwillig eingestehen, dass du offensichtlich eine dieser wackeren Schönheiten bist, die den Dichter zur gleichen Zeit anstacheln und ihn in Verwirrung stürzen.«
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    Samstag, 5. Mai
    Frühmorgens rief Melkorka den Dichter von Hvíthöfði an, aber Beinteinn Marteinsson nahm nicht ab, obwohl sie es beide Male lange klingeln ließ.
    »Wahrscheinlich schläft er morgens länger«, mutmaßte Kári.
    Aber in Melkorka war ein lebhaftes Interesse an dem eigenartigen Rätsel erwacht, mit dem sich ihr Großvater während der Kriegsjahre herumgeschlagen hatte. Sie brannte darauf weiterzumachen.
    »Dann muss ich es wohl ohne ihn versuchen«, beschloss sie.
    Als Höskuldur einen ausführlichen Bericht über die Runeninschriften an Himmler gesandt hatte, befahl ihm der Reichsführer-SS, beide Steine zur Aufbewahrung in die Wewelsburg in Westfalen zu bringen:
    Eine prachtvolle Burg mit drei Türmen. Auf zweien davon ist eine Schweifhaube, nicht aber auf dem Nordturm, der von allen der höchste und mächtigste ist. Als wir dort gegen Abend ankamen, waren Dutzende Arbeiter, ihrer Kleidung nach KZ-Häftlinge, mit Ausbesserungsarbeiten an der Burg beschäftigt. Ich verwahrte die Runensteine aus dem Teutoburger Wald und von Jelling sicher und gut in dem Kellergewölbe. Der Reichsführer teilte mir mit, dass die Steine einen Ehrenplatz im heiligen Tempel der SS bekommen
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würden, sobald die Umbauten am Nordturm abgeschlossen seien.
    Aber was war mit dem dritten Stein? Hatte ihr Großvater eine Gelegenheit bekommen, nach dem dritten Runentext auf der Krim zu suchen und ihn womöglich sogar zu finden?
    Melkorka übertrug die nächsten Kapitel des Tagebuchs mit wachsender Neugier.
    Im Herbst 1941, als Höskuldur seinen Bericht über die Suche nach dem ältesten Runenstein niederschrieb, tobte der Angriffskrieg der deutschen Truppen auf die Sowjetunion gerade am heftigsten, und es hatte ganz den Anschein, als fiele Moskau der eisernen Umklammerung der Deutschen über kurz oder lang zum Opfer. Höskuldur bereitete sich auf seine Reise nach Osten vor, indem er sich die alten Erzählungen über das Gotenreich vornahm, das vor fast zwei Jahrtausenden am Schwarzen Meer bestand:
    Die Gotensaga, Codex Holm, ein schwedisches Manuskript, im dreizehnten Jahrhundert niedergeschrieben: darin wird von der Herkunft der Goten aus Skandinavien berichtet und von ihrem Zug über die Ostsee nach Estland und von da über die Weichsel und Dwina nach Süden zum Schwarzen Meer bis zur heutigen Ukraine. Damals gehörte das Gebiet zu Griechenland. Dann, vor zweitausend

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