Runenschild
ersten Mal gestand er sich ein, dass er Sean
unterschätzt hatte, schon wieder.
»Daran zweifle ich nicht.« Sean runzelte die Stirn. »Also
gut. Du willst nicht darüber reden. Das verstehe ich. Aber
nun verrate mir wenigstens, wer du bist.«
»Ich bin nur ein Küchenjunge, genau wie du gesagt
hast«, beharrte Dulac stur. Sean wollte widersprechen,
doch er fuhr rasch und mit etwas lauterer Stimme fort:
»Du hast es ja selbst gesagt: Zwei einfache junge Menschen auf der Flucht vor dem Krieg fallen nicht so auf wie
eine Königin und ein abtrünniger Ritter.«
»Lüg mich nicht an«, sagte Sean. Er lächelte immer
noch, aber Dulac konnte den Ärger des hochgewachsenen
Mannes spüren. »Sie hat zwei Tage und Nächte an deinem
Krankenlager gesessen und genug Tränen vergossen, um
einen ausgetrockneten See damit zu füllen. Und du behauptest, nur ein einfacher Küchenjunge zu sein, den sie
kaum kennt?« Er schüttelte den Kopf.
Dulacs Gedanken rasten. Er musste eine Ausrede finden,
mit der Sean sich zufrieden geben würde, jetzt wo er
schon so viel gesagt hatte. Das war das Problem mit Lügen, dachte er: Wenn man einmal damit anfing, dann
musste man es auch zu Ende bringen, und es wurde komplizierter mit jedem noch so winzigen Schritt, den man
sich weiter von der Wahrheit entfernte. »Also gut«, sagte
er. »Erinnerst du dich noch an die erste Frage, die du uns
in dem Wirtshaus gestellt hast?«
Sean kniff die Augenbrauen zusammen. »Was meinst du
damit?«
»Du fragtest mich, ob Gwinneth meine Schwester sei.«
»Ich erinnere mich undeutlich.« Seans Gesichtsausdruck
verfinsterte sich zusehends. »Aber was willst du damit
sagen?«
»Du hattest Recht, damals, ohne es zu ahnen.« Dulac
nickte bestätigend. »Ich bin tatsächlich ihr Bruder.«
Sean schüttelte ungläubig den Kopf. »Niemand hat mir
gesagt, dass Lady Gwinneth einen Bruder hat.«
»Weil niemand es weiß«, antwortete Dulac. »Ich bin auf
Camelot aufgewachsen und habe dort wirklich als Küchenjunge gelebt. Und eigentlich bin ich auch nur Gwinneths Halbbruder. Wir haben uns erst wiedergesehen, als
sie nach Camelot kam um Artus zu heiraten.«
»Und der König …«
»… weiß nichts davon«, sagte Dulac. »Es war ihr
Wunsch. Und so wie es aussieht, eine sehr kluge Entscheidung.«
»Einen Verbündeten bei Hofe zu haben, von dem niemand etwas weiß«, sagte Sean nachdenklich. Er wiegte
den Kopf. »Noch dazu jemanden vom Dienstpersonal, das
sowieso viel besser über alles Bescheid weiß, was bei Hofe geschieht, und vor allem über das, was man so redet.«
Er nickte. »Deine Schwester ist wirklich eine sehr kluge
junge Frau.«
Dulac konnte gerade noch ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken. Zumindest für den Moment schien Sean ihm
zu glauben, auch wenn seine Geschichte kaum einer genaueren Überprüfung standhalten würde. Aber so weit
würde es nicht kommen. Obwohl Dulac gestehen musste,
dass ihm der schwarzhaarige Ire trotz allem immer sympathischer wurde, und er tief in sich spürte, dass er ihm und
seinen Brüdern durchaus trauen konnte, würden sie sich
von diesen Männern trennen, sobald sich eine Gelegenheit
dazu ergab. Und sei es nur, weil er nicht noch mehr Menschen, die es gut mit ihnen meinten, Tod und Verderben
bringen wollte.
Es dauerte doch noch deutlich länger, als Sean angekündigt hatte, bis sie endlich ihr Ziel erreichten. Tatsächlich
war der Nachmittag bereits so weit fortgeschritten, dass
sich Dulac innerlich schon mit dem Gedanken anzufreunden begann, eine weitere Nacht in Eis und Schnee und
unter nichts anderem als dem Schutz eines Blätterdaches
zu verbringen. Vielleicht, überlegte er, wäre es ohnehin
das Klügste. Sie hatten menschliche Ansiedlungen und die
Nähe anderer Reisenden in den letzten Tagen und Wochen
gemieden, wo sie nur konnten, und das erste und einzige
Mal, als sie von dieser Regel abgewichen waren, hatte in
nichts anderem als einer Katastrophe geendet. Möglicherweise war das ja der wirkliche Fluch, mit dem Morgaine
sie belegt hatte: Sie waren zwar frei, doch vielleicht würden sie nie wieder ungestraft in die Nähe von Menschen
zurückkehren können und den Rest ihres Lebens als Gejagte und Einsame verbringen.
»Da vorne ist es.« Sean zügelte sein Pferd und hob
gleichzeitig die linke Hand um nach vorne zu deuten.
Auch Dulac hielt an und blickte in die angegebene Richtung, aber er konnte dort vorne nichts anderes erkennen als
das, was er den ganzen Tag über schon gesehen
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