Runlandsaga - Feuer im Norden
Tanati, die Wahrheit dessen, was ihrer Tochter zugestoßen war, mit Gewalt aus ihr herauszupressen.
Die Gorrandhas waren Wesen aus der Welt der Geister. Neria hatte schon als kleines Mädchen Geschichten von ihnen gehört. Ukannit, den alle Kinder im Dorf nur »Großvater« nannten, egal ob sie nun mit ihm verwandt waren oder nicht, hatte ihnen bei mehr als nur einer Gelegenheit am nächtlichen Feuer von den Gorrandhas erzählt. Sie lebten an den Orten im Wald, wo Eiben wuchsen. Sie waren trickreich und gefährlich, vor allem aber waren sie hungrig. Sie konnten von einem Menschen Besitz ergreifen und ihn langsam von innen auffressen. Der Unglückliche, mit dem dies geschah, wurde von einer unerklärlichen Unruhe ergriffen, die sich immer mehr steigerte, bis er schließlich in Raserei verfiel und andere in seinem Wahnsinn angriff, um sie zu töten und zu verzehren. Neria hatte schon lange nicht mehr davon gehört, dass ein Gorrandha über einen Dorfbewohner hergefallen sei. Ihr war aber schon oft von einer jungen Frau erzählt worden, die vor Jahren von einem dieser Wesen besessen gewesen war. Neria musste damals wohl noch ein kleines Kind gewesen sein. Die Frau hatte ihren Liebsten umgebracht und war dabei gewesen, seinen Körper zu zerstückeln und zu verzehren, als die anderen Voron aus der Siedlung sie überwältigten und töteten. Die einzige Möglichkeit, einen Gorrandha zu vernichten, bestand darin, demjenigen, in den er eingedrungen war und dessen Seele er gefressen hatte, den Kopf abzuschlagen.
»Bist du allein im Wald gewesen, bevor du zum Wolf wurdest?«, hatte Tanati gefragt. Ihre Stimme klang ängstlich und lauter als gewöhnlich. »Vielleicht bei den Totenbäumen? Hast du jemanden dort getroffen? Jemand, der aussah, wie einer von uns, aber den du noch nie zuvor gesehen hattest?«
Neria schüttelte ihren Kopf. Nein, sie war nicht allein im Wald gewesen. Später, als Voron, aber nicht auf zwei Beinen. In Wolfsgestalt gab es kaum ein Wesen, das ein Voron zu fürchten hatte. Die Verwandlung schärfte seine Sinne und ließ ihn um ein Vielfaches kräftiger werden als einen gewöhnlichen Wolf oder Zweibeiner, aber unverwundbar machte sie ihn nicht. Die Pfeilwunde in ihrer Schulter, die letztendlich doch hatte genäht werden müssen, erinnerte Neria noch immer schmerzhaft daran, wenn ihre Kleidung bei schnellen Bewegungen über die Verletzung scheuerte. In ihrer Menschengestalt jedoch waren die Voron nicht stärker als die anderen Zweibeiner, die sich niemals verwandelten. Nachts im Wald herumzustreifen blieb den Wölfen vorbehalten.
»Ich sage dir, es war kein Gorrandha oder irgendein anderer Geist, böse oder nicht böse«, hatte sie ihrer Mutter erwidert. »Es war wirklich der Wächter, der sich mir gezeigt hat. Frag Pemiti und Tekina! Sie haben mich in der Alten Stadt zu ihm gelassen!«
Tanati ließ sie mit einem leisen Aufschrei der Überraschung los, kaum dass die Namen der Anführer ihres Dorfes über Nerias Lippen gekommen waren.
Eine Voronsiedlung wurde immer von einem Mann und einer Frau geleitet. In Nerias Dorf hatten Pemiti und Tekina diese Stellung inne. Sie hoben sich aber noch aus einem anderen Grund von den übrigen Voron ab. Gewöhnlich konnten sich die Wolfsmenschen nur zur Zeit des Vollmonds verwandeln. Wer noch nicht erwachsen war und sich daher noch nie oder erst ein paar Mal verwandelt hatte, der besaß über diese Fähigkeit keine Kontrolle. Die Veränderung zum Tier geschah unwillkürlich. Nach ein paar Jahren war ein Voron dann in der Lage, die Verwandlung zu unterdrücken oder bewusst herbeizuführen, aber immer nur zu Vollmond. Doch zu jeder Zeit, solange die Voron des Wildlandes zurückdenken konnten, waren da einige besondere Wolfsmenschen gewesen, die sich willentlich in einen Wolf verwandeln konnten, ob der volle Mond am Himmel hing oder nicht. Niemand wusste, ob sie eine Laune des Schicksals darstellten oder ob sie vielleicht eine lebendige Andeutung dessen waren, wozu vielleicht eines Tages einmal alle Voron in der Lage sein würden. Doch unabhängig davon, was sie auch waren, es hieß, dass Talháras sie gesegnet hatte. Wann immer einer von ihnen unter den Voron lebte, so war er dazu auserwählt, Talháras‘ Höhle in der Alten Stadt zu beschützen.
Seit Neria zurückdenken konnte, hatten Pemiti und Tekina diese Aufgabe innegehabt. Einen großen Teil ihrer Zeit verbrachten sie in Wolfsgestalt in der Alten Stadt. Sie waren die Stimme der Voron, die sich an ihren
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