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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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herzlichen Dank, aber euer Applaus wäre wirklich
nicht nötig gewesen.»
     
    Je
nachdem, wo man sich aufhält, kann es in der Welt der Magie nachts lebhafter
zugehen als am Tag. In Peristan, dem Land der Imaginären Wesen, schleichen
nachts oft Oger umher, die Bhoots, um schlafende Peris zu entführen. In Khwäb,
der Stadt der Träume, ist die Nacht die Zeit, in der die Träume all ihrer
Bewohner Gestalt annehmen und in den Straßen ausgelebt werden - Liebesaffären
und Zwistigkeiten, Freude und Schrecken, all das drängt sich auf den dunklen
Gassen zusammen, und manchmal kommt es sogar vor, dass dein Traum am Ende der
Nacht in einen anderen Kopf überspringt, während dessen Traum zur großen
Überraschung und Verwirrung des Träumers in deinem Kopf landet. Auch in Ott,
so hatte Soraya erzählt, benahm sich keiner so hemmungslos, verrückt und
unberechenbar wie in den Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang.
Otter aßen zu viel, tranken zu viel, stahlen ihren besten Freunden das Auto,
beleidigten ihre Großmütter und warfen mit Steinen nach dem Bronzegesicht des
ersten Königs von Ott, Sorayas Vorfahren, dessen Reiterstatue vor den Palasttoren
stand. «Es stimmt», seufzte sie, «wir sind ein ungesittetes Volk, doch wir
haben das Herz am rechten Fleck.»
    Im Land
der eine-Trilliarde-und-einen Irrwege jedoch war die Nacht gespenstisch ruhig.
Keine Fledermaus flog vor dem Mond vorbei, zwischen den Büschen schimmerten
keine silbrigen Elfen, keine grausamen Gorgonen lauerten darauf, unachtsame
Reisende in Stein zu verwandeln. Diese Ruhe, diese Grabesstille, war beinahe
beängstigend. Es zirpten keine Grillen, keine Stimmen riefen in der Ferne übers
Wasser, keine Tiere schlichen durch die Nacht. Als Soraya merkte, dass Luka die
Stille zu schaffen machte, versuchte sie, ein wenig Alltagsstimmung zu
verbreiten. «Hilf mir mal, den Teppich zusammenzurollen», befahl sie und
setzte in bester Ottermanier hinzu: «Falls du dazu nicht zu ungeschickt und
tollpatschig bist.»
    Sie hatten
die Argo zu Wasser gelassen und waren an
Bord gegangen. Die Gedächtnisvögel brauchten das Schiff nicht zu ziehen - das
konnte Resham problemlos erledigen. Doch auch
ein fliegender Teppich weiß ein paar Stunden Rast zu schätzen, weshalb Soraya
ihn an Deck der Argo für die Nacht forträumte. Luka
fasste den weichen Seidenstoff an zwei Ecken an, befolgte Sorayas Anweisungen
und bemerkte mit Erstaunen, dass sich der Teppich immer weiter zusammenfalten
ließ, weiter und noch weiter, als wäre er aus faltbarer Luft gemacht. Zu guter
Letzt war er kaum größer oder unhandlicher als ein zusammengelegtes
Taschentuch, und all das verzauberte Mobiliar war darin verschwunden.
«Geschafft», sagte Soraya und steckte sich den Teppich in die Tasche. «Danke,
Luka.» Dann besann sie sich und fügte hinzu: «Na ja, nicht dass du eine
besonders große Hilfe gewesen wärst.»
    Die Tiere
schliefen bereits. Nobodaddy, der niemals schlief, benahm sich immerhin, als
wäre er auf sehr menschliche Weise ermattet, und hockte still im Bug der Argo, schlang
die Arme um die Knie und senkte den Kopf, auf dem er immer noch seinen
Panamahut trug. Luka begriff, dass sich sein Vater ein wenig erholt haben
musste, da Nobodaddy wieder durchsichtiger wirkte. «Vielleicht ist er deshalb
müde», dachte Luka. «Je kräftiger mein Vater wird, desto schwächer wird
Nobodaddy.»
    Luka
wusste, dass es ein Fehler gewesen wäre, allzu viel Hoffnung auf diese Belebung
zu setzen, da er gehört hatte, dass Kranke manchmal eine kurze, irreführende
Besserung erleben, ehe es endgültig mit ihnen... bergab geht. Er war selbst
auch ziemlich müde, gestattete sich aber keinen Schlaf. «Wir müssen weiter»,
sagte er zu Soraya. «Warum benehmen sich alle, als hätten wir Zeit im Übermaß?»
    Am Himmel
gingen die Sterne auf und tanzten wieder wie in jener Nacht, in der Raschid
eingeschlafen war. Luka wusste nicht, ob das ein schlechtes Omen war, fürchtete
aber, es könne nichts Gutes verheißen. «Fahren wir los», flehte er Soraya an,
doch sie trat einfach auf ihn zu, drückte ihn auf eine Weise an sich, die so
gar nicht zu ihrer unverschämten Art zu passen schien, und nur einen Moment
später war er in ihren Armen fest eingeschlafen.
     
    *
     
    Er
erwachte in aller Frühe, noch vor dem Morgengrauen, war aber nicht der Erste,
der die Augen aufschlug. Die Gedächtnisvögel und auch die übrigen Tiere
schliefen noch, doch Nobodaddy lief auf und ab und sah beunruhigt aus. (War

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