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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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nach links gehen und hierhergelangen -, weil ich jeden
Tag von ihr gehört habe, ob in Gutenachtgeschichten, Frühstücksstorys,
Abendessenmärchen oder den langen Erzählungen, die er seinem Publikum überall
in der Stadt Kahani und im ganzen Lande Alifbay vortrug, ja, manchmal hat er
mir sogar kleine Geheimnisse über diese Welt ins Ohr geflüstert, ganz für mich
allein. In gewisser Weise ist sie daher nun auch meine Welt. Und die schlichte
Wahrheit lautet: Wenn ich ihm nicht das Lebensfeuer bringe, ehe es zu spät
ist, dann wird er nicht der Einzige sein, der sein Ende findet. Dann dürfte
dies alles hier auch verschwinden; was genau mit euch passiert, kann ich nicht
sagen, aber sicher werdet ihr nicht mehr in dieser komfortablen Welt leben, in
der ihr euch vormachen könnt, jemand Wichtiges zu sein, obwohl sich niemand mehr
einen Pfifferling um euch schert. Im schlimmsten Fall verschwindet ihr
spurlos - puff! -, so als hätte es euch nie
gegeben, denn seien wir ehrlich, wie vielen Menschen außer Raschid Khalifa ist
wirklich daran gelegen, eure Geschichte zu bewahren? Wer außer ihm kennt denn
noch den Salamander, der im Feuer lebt, oder den Squonk, den es so traurig
macht, hässlich zu sein, dass er sich in Tränen auflöst?
    Also,
wacht auf, riecht den Kaffee, ihr Oldtimer! Ihr seid ausgestorben! Abgemeldet!
Als Götter und Wunderwesen habt ihr ausgedient! Ihr sagt, das Lebensfeuer darf
nicht in die reale Welt gelangen? Und ich sage euch: Wenn es nicht in
Windeseile einen bestimmten Bewohner der realen Welt erreicht, seid ihr
erledigt, dann werden eure goldenen Eier gebraten, wird eure Zaubergans
geschlachtet.»
    «Wow!»,
flüsterte ihm das Eichhörnchen Ratatat ins Ohr. «Ihre Aufmerksamkeit hast du
jedenfalls geweckt.»
    In der
gesamten Armee ausgedienter Gottheiten herrschte ein erstauntes Schweigen, so
entsetzt waren sie. Luka unter dem Baum des Schreckens wusste jedoch, dass
jetzt nichts den Bann brechen durfte. Er hatte noch jede Menge zu sagen.
    «Soll ich
euch verraten, wer ihr jetzt seid?», rief er. «Nun, vorab will ich euch daran
erinnern, wer ihr nicht mehr seid. Eigentlich seid ihr
nämlich Götter von nichts und niemandem mehr und habt keine Gewalt mehr über
Leben und Tod, über Erlösung und Verdammnis. Ihr könnt euch nicht länger in
Stiere verwandeln und Erdenmädchen rauben, euch in Kriege einmischen oder eines
der vielen Spielchen treiben, die ihr so gern gespielt habt. Schaut euch an!
Statt wahre Macht auszuüben, haltet ihr Schönheitswettkämpfe ab. Ist doch
ziemlich erbärmlich, findet ihr nicht? Also hört zu: Allein durch Geschichten
könnt ihr zurück in die reale Welt gelangen und wieder an Macht gewinnen. Wird
eure Geschichte gut erzählt, glauben die Menschen an euch; nicht wie früher,
nicht, dass sie euch anbeten, aber so, wie die Menschen eben an Geschichten
glauben - erfreut, beglückt und mit dem Wunsch, sie mögen niemals enden. Ihr
wollt Unsterblichkeit? Die kann euch heutzutage nur mein Vater geben - oder
Menschen wie er. Mein Vater kann seine Zuhörer vergessen lassen, dass sie euch
ganz vergessen haben, kann dafür sorgen, dass sie euch wieder verehren und
sich aufs Neue dafür interessieren, was ihr so treibt, und dass sie sich
wünschen, ihr mögt auf ewig leben. Und ihr versucht mich aufzuhalten? Ihr solltet
mich anriehen, dass ich meine Aufgabe rasch zu Ende bringe. Ihr solltet mir
helfen. Ihr solltet mir das Lebensfeuer in den Otterpott geben, darauf achten,
dass die Otterkartoffeln glühen, und mich dann bis nach Hause begleiten. Wer
ich bin? Ich bin Luka Khalifa, eure letzte Hoffnung.»
    Es war die
bedeutendste Ansprache seines Lebens, gehalten auf der wichtigsten Bühne, auf
die er je einen Fuß gesetzt hatte. Luka hatte auch noch das allerletzte Fitzelchen
Beredtheit und Leidenschaft in die Waagschale geworfen, keine Frage - aber
hatte er sein Publikum überzeugt? «Vielleicht», dachte er besorgt, «vielleicht
auch nicht.»
    Bär der
Hund und Hund der Bär hockten noch immer auf dem Rücken des Pferdekönigs,
feuerten ihn an und schrien: «Ja, genau, gib's ihnen!», doch die Stille der Götter
wurde so beklemmend, so bedrückend, dass schließlich sogar Bär die Klappe hielt.
Diese schreckliche Stille wurde wie dichter Nebel immer schwerer, der dunkle
Himmel immer dunkler, bis das einzige Licht, das Luka noch sehen konnte, ein
Glosen im Feuertempel war, und in dessen flackerndem Glanz sah er nun von
überall gigantische Schatten nahen, Schatten, die

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