Rushdie Salman
Zeiten, in denen die
Familie außerhalb der Stadt Florenz im Exil weilte, blieb
der Spiegel noch eine Weile an seinem Platz in dem
Raum hängen, der im alten Haus an der Via Larga einmal
Onkel Giulianos Schlafgemach gewesen war, doch da
sich das Glas standhaft weigerte, weder als ein Werkzeug
der Offenbarung noch als gewöhnlicher Spiegel zu funktionieren, wurde es schließlich abgehängt und in einen
kleinen Putzschrank gestellt, kaum mehr als eine hinter
der Schlafzimmerwand verborgene Besenkammer. Nach
der Wahl von Papst Leo aber begann der Spiegel plötzlich wieder zu glühen, und es hieß, eine Dienstmagd sei
vor Schreck ohnmächtig geworden, als sie die Kammertür öffnete und ihr das Gesicht einer Frau aus spinnenwebverhangener Ecke entgegenblickte, einer Fremden,
die wie eine Besucherin aus einer anderen Welt aussah.
«In ganz Florenz gibt es kein solches Gesicht», sagte der
neue Herzog Giuliano, sobald ihm das Wunder gezeigt
wurde, doch schien sich mit dem Blick in den Zauberspiegel ebenso seine Gesundheit wie auch seine Haltung
deutlich zu verbessern. «Hängt den Spiegel wieder an die
Wand, und ein Golddukaten soll dem gezahlt werden, der
die Trägerin dieses lieblichen Antlitzes zu mir bringen
kann.»
Der Maler Andrea del Sarto wurde geholt, um einen
Blick in den Zauberspiegel zu werfen und das Bildnis der
darin sichtbaren Schönen zu malen, doch ließ sich der
Spiegel nicht so leicht übertölpeln, denn jeder Zauberspiegel, der zuließe, dass man seine magischen Bilder
reproduzierte, wäre nur allzu bald außer Diensten, weshalb del Sarto, als er ins Glas schaute, niemanden erblickte als sich selbst. «Egal,,, sagte Giuliano enttäuscht.
«Sie kann Euch Modell stehen, sobald ich sie finde.,,
Kaum war deI Sarto fort, fragte sich der Herzog, ob das
Problem nicht vielleicht darin bestehe, dass der Spiegel
keine allzu hohe Meinung vom Genie des Künstlers hegte, doch schien del Sarto der Beste, der zur Verfügung
stand, denn Sanzio war in Rom, um sich mit Buonarroti
im Vatikan zu streiten, und der alte Filipepi, dem es die
verstorbene Simonetta so angetan hatte, dass er zu ihren
Füßen begraben werden wollte - was man natürlich nicht
zulassen konnte -, war mittlerweile selbst tot, und lange,
ehe er starb, war er arm und nutzlos geworden, da er ohne die Hilfe von zwei Krückstöcken nicht mehr aufrecht
hatte stehen können. Filipepis Schüler Filippino Lippi
war bei den festaiuoli beliebt, den Organisatoren des
Straßenkarnevals und aller festlichen Paraden, ein Liebling der Massen, für jene Aufgabe aber völlig ungeeignet,
die Herzog Giuliano vorschwebte. Also blieb nur deI
Sarto, doch war es letztlich müßig, darüber zu spekulieren, denn von nun an zeigte der Zauberspiegel sein Bild
nur noch, wenn sich Giuliano allein im Zimmer aufhielt.
Während der nächsten Tage fand er daher immer häufiger einen Vorwand, sich mehrmals am Tag in sein
Schlafgemach zurückzuziehen, um die überirdische
Schönheit zu betrachten, und seine Höflinge, die sich
längst um seine angeschlagene Gesundheit und seine
neurasthenischen Launen sorgten, begannen, da sie eine
Verschlechterung seines Zustandes fürchteten, sich mit
wachsendem Grausen und zunehmender Unterwürfigkeit
Lorenzo anzudienen, dem mutmaßlichen Nachfolger.
Dann aber ritt eines Tages dieses bezaubernde Geschöpf
an der Seite von Argalia, dem Türken, in die Stadt, und
die Zeit der ammaliatrice begann.
Sie war gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt, fast ein
Vierteljahrhundert jünger als Il Machia, doch als sie ihn
fragte, ob er mit ihr in seinem Wald spazieren gehen wolle, sprang er mit der Gelenkigkeit eines bis über beide
Ohren vernarrten Jünglings von seinem Platz auf. Ago
Vespucci erhob sich ebenfalls, wie Niccolo irritiert bemerkte; was denn, war dieser indolente Kerl immer noch
da? Und rechnete er etwa damit, sie auf dem Ausflug
begleiten zu dürfen? Lästig, überaus lästig, doch unter
den gegebenen Umständen wohl unvermeidlich. Dann
folgte der erste Hinweis darauf, dass die Prinzessin über
außergewöhnliche Gaben verfügte. Niccolos Frau Marietta, sonst die Eifersucht in Person, unterstützte den
Vorschlag bereitwillig und in einem Ton, der ihren Mann
in Erstaunen versetzte. «Ja, natürlich musst du ihr die
Gegend zeigen», flötete sie, stellte rasch einen Picknickkorb zusammen und legte noch eine Flasche Wein dazu,
auf dass ihnen der Ausflug desto besser gefalle. Der erstaunte Il
Weitere Kostenlose Bücher