Rushdie Salman
Rennen nicht dabei sein konnte.
Kaum hatte Selim der Grimmige im Thronsaal der
Wohnstätte der Glückseligkeit über den Verräter das Todesurteil verhängt, machte Argalia, der die Regeln kannte, auf dem Absatz kehrt und lief um sein Leben. Vom
Thronsaal bis zum Angelhaustor ist es durch den Palastgarten knapp einen Kilometer, und er musste dort vor
dem nacktbrüstigen bostanci-basha mit seiner roten
Schädelkappe und den weißen Musselinpluderhosen ankommen, der ihm bereits dicht auf den Fersen war und
mit jedem Schritt aufholte. Sollte er gefangen genommen
werden, würde er am Angelhaus sterben und in den Bosporus geworfen werden, in den man alle Leichen warf.
Wie er an den Blumenbeeten vorbeirannte, sah er vor
sich das Angelhaustor, hörte die Schritte des bostancibasha näher kommen und wusste, er würde es nicht
schaffen. «Das Leben ist absurd», dachte er. «Da überlebt
man so viele Kriege und wird am Ende von einem Gärtner erwürgt. Zu Recht heißt es, es gebe keinen Helden,
der nicht vor seinem Tod die Sinnlosigkeit allen Heldentums erkenne.» Und ihm fiel ein, wie ihm als kleinem
Jungen zum ersten Mal die Absurdität des Lebens aufgegangen war, damals, allein in einem Ruderboot inmitten
einer Seeschlacht und bei dichtem Nebel. «All die Jahre
später», dachte er, «muss ich dieselbe Lektion noch einmal lernen.»
Nie wurde eine befriedigende Erklärung dafür gegeben,
war-um der schnellfüßige Obergärtner Sultan Selims des
Grimmigen nur dreißig Meter vor dem Ende des Gärtnerrennens urplötzlich zu Boden stürzte oder warum er sich
den Bauch hielt und einen Anfall übelster Darmwinde
erlitt, die je ein Mensch gerochen hat, warum er Fürze
laut wie Kanonenschläge von sich gab und vor Schmerz
wie eine entwurzelte Alraune schrie, während Argalia am
Zielpfosten des Angelhauses vorbeilief, ein dort wartendes Pferd bestieg und ins Exil davongaloppierte. «Habt
Ihr da etwa Eure Hand im Spiel gehabt?», fragte Argalia
seine Geliebte, als sie sich in Bursa wiedersahen.
«Aber was hätte ich meinem lieben kleinen basha denn
antun sollen?», antwortete sie mit weit aufgerissenen
Augen. «Ihm einen Brief zuschicken, in dem ich ihn im
Voraus dafür danke, Euch, meinen entsetzlichen Entführer, ermordet zu haben, und ihm als Zeichen meiner
Dankbarkeit einen Krug anatolischen Weins zukommen
lassen, das ist eine Sache, ganz recht, aber genau zu berechnen, wie lange ein dem Wein beigemischtes Gift
bräuchte, bis es die gewünschte Wirkung zeigte, nun, das
ist natürlich völlig unmöglich.»
Er schaute ihr in die Augen, konnte darin aber nicht die
geringste Andeutung auf Lug und Trug entdecken, keinen Hinweis darauf, dass sie oder ihr Spiegel oder beide
gemeinsam irgendetwas getan haben mochten, das den
Gärtner dazu verführt haben könnte, seine Pflicht zu versäumen, im Voraus zu einer bestimmten Stunde vom
anatolischen Wein zu kosten, gar zum Ausgleich für einen Moment der Freuden, der für einen Mann wie ihn ein
Leben lang vorhalten würde. Nein, sagte sich Argalia,
während ihn die Blicke von Qara Köz in ihren Bann zogen, nichts dergleichen konnte geschehen sein. Seht die
Augen meiner Geliebten, wie arglos sie schauen, wie voll
der Liebe und der Wahrheit.
Admiral Andrea Doria, Kapitän der genuesischen Flotte,
wohnte, so er denn er an Land weilte, in der Vorstadt
Fassolo vor dem San-Tommaso-Tor gleich außerhalb der
Stadtmauern am nordwestlichen Eingang zum Hafen.
Von einem Edelmann aus Genua mit Namen Jacobo Lomellino hatte er sich dort eine Villa gekauft, da er sich
darin wie einer der alten, Toga tragenden, mit Lorbeerkranz geschmückten Römer fühlte, die ehedem in prächtigen Strandvillen wie etwa jener in Laurentinum gewohnt hatten, beschrieben vom jüngeren Plinius, aber
auch wegen des Ausblicks auf den Hafen, der es ihm
ermöglichte, genau im Auge zu behalten, wer zu welcher
Zeit in die Stadt kam oder wer sie verließ. Für den Fall,
dass rasches Handeln vonnöten sein sollte, ankerten seine
Galeeren unmittelbar vor dem Haus. Und so kam es, dass
er zu den Ersten zählte, die jenes Schiff aus Rhodos erspähten, das Argalia zurück nach Italien brachte, und mit
Hilfe seines Fernglases machte er an Bord eine große
Anzahl schwerbewaffneter Männer in der Uniform osmanischer Janitscharen aus. Vier von ihnen waren offenbar Albino-Riesen. Von seinem Platz auf der Terrasse
schickte er einen Boten zu seinem Leutnant Ceva und
wies ihn an, dem Schiff aus Rhodos
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