Russen kommen
Bürgermeister fragen. Gestern Nachmittag haben wir Dolochow auf der Terrasse gefunden. Er hat gewirkt, als wäre er deutlich länger als einen Tag tot. Ich bin keine Expertin in solchen Fragen. Ich muss mit Zuckerbrot reden. Bei uns ist heute Redaktionsschluss, ich kann maximal Aufschub bis morgen Mittag bekommen, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bedanke mich bei Urbanek. Wie wird er reagieren, wenn er herausfindet, dass Dolochow tot ist? Und dass ich schon davon gewusst habe? Kann mir eigentlich egal sein. Trotzdem ist es mir unangenehm, immerhin war er nett und hilfsbereit. Ich will noch mit dem Bürgermeister reden. Aber der ist zu einer Sitzung nach Wien. Seine Sekretärin bestätigt es mir: Dolochow war tatsächlich vorgestern da.
Ich habe mein Mobiltelefon im Auto liegen lassen. Der Bauunternehmer Sorger. Nein, immer noch nicht. Dafür hat Oskar achtmal versucht, mich zu erreichen. Ich bin unmöglich, wirklich. Ich verstehe, wenn er wütend auf mich ist. Ich fahre los – im neuen Auto habe ich sogar eine funktionierende Freisprecheinrichtung – und rufe ihn an. Er lässt bloß einen erleichterten Stoßseufzer los: »Gott sei Dank, Mira, endlich, wo bist du?«
»Im Weinviertel. Ich fahre gerade nach Wien zurück. Alles in Ordnung.«
Oskar lacht, es klingt gar nicht fröhlich. »In Ordnung? Das würde ich nicht sagen. Du schleichst im Morgengrauen aus der Wohnung, beantwortest keinen Anruf …«
»Es tut mir leid«, sage ich zerknirscht.
»Mira, der Fall ist nichts für dich.« Oskar sagt es sehr ernst.
»Ich hab heute ohnehin schon Redaktionsschluss«, beruhige ich ihn. »Ich habe nichts Gefährliches getan, ich habe bloß etwas Lokalkolorit gesammelt in dem Ort, in dem Dolochows Großvater gefallen ist.« Und herausgefunden, dass der Todeszeitpunkt und sein Besuch im Weinviertel kaum zusammenpassen, aber das will ich ihm am Telefon nicht sagen.
»In diesem Fall ist alles gefährlich«, beschwört mich Oskar.
»Ich passe auf.«
»Ist Vesna bei dir?«, will er wissen.
Ich weiß nicht, ob ihn das beruhigen oder beunruhigen würde, also kann ich ihm gleich die Wahrheit sagen. »Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit, ihr irgendetwas zu erzählen.«
»Sie hat doch diese bosnischen Verwandten, die angeblich als Reinigungskräfte bei ihr arbeiten … Ich zahle dafür, einer von den Kerlen soll dich ein paar Tage begleiten. Und du schreibst deine Story, und das war es dann.«
Ich mag es nicht, wenn man über mich bestimmt. Im letzten Moment schlucke ich eine wütende Entgegnung hinunter. Oskar macht sich doch bloß Sorgen. Und es kann sein, dass er in diesem Fall guten Grund dazu hat.
Ich fahre zu Vesnas Büro. Ich habe nicht vor, Bruno oder Stobo als Leibwächter zu engagieren, aber ich muss Vesna erzählen, was seit gestern geschehen ist. Und übertriebene Vorsicht oder nicht, ich will es nicht am Telefon tun.
Wenn Dolochow, so wie es für mich ausgesehen hat, tatsächlich schon länger tot ist: Was bedeutet das dann? War der Dolochow im Weinviertel ein Doppelgänger? Wer weiß. Vielleicht brauchen russische Oligarchen Doubles, die das weniger Wichtige, vielleicht auch das Gefährliche, erledigen. Ich denke an eine Spezialklinik außerhalb von Moskau, in der Menschen, die ihrem Auftraggeber in Größe und Statur gleichen, zurechtgeschnitten werden. Andere Backenknochen, eine längere Nase. Ist doch heute alles machbar, wenn man das nötige Geld hat. Fragt sich nur: Ist dann der echte Dolochow tot oder sein Doppelgänger? Ich bremse im letzten Moment, beinahe hätte ich eine rote Ampel übersehen. Ich sollte mich lieber auf den Verkehr konzentrieren. Ich muss herausfinden, wie lange Dolochow tatsächlich schon tot ist. Zuckerbrot. Information gegen Information. Vielleicht kann ich ihm mit der Tatsache, dass Dolochow noch vorgestern im Weinviertel war, um den Bau einer Kapelle unter Dach und Fach zu bringen, etwas Neues erzählen? Ob Zuckerbrot mit sich handeln lässt? Ich habe nicht viele andere Möglichkeiten, um bis Redaktionsschluss mehr herauszufinden, als ich bereits weiß.
Es wäre gut, wenn Vesna mit den Bewohnern des Hauses am Graben reden könnte, klären könnte, wie oft und mit wem Dolochow dort war. Und ich werde noch einmal bei Sorger-Bau anrufen. Warum ruft der Typ nicht zurück? Ich stutze. Irgendetwas, das ich im »Zirben« beobachtet habe, irritiert mich. Es passt nicht ganz zu dem, was mir dieser Fabian Urbanek über Dolochow erzählt hat. Im Weinviertel hat er auf Familienmensch
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