Russen kommen
»Ausgezeichnet, ich gebe zu, das macht es für mich leichter. Ich arbeite nicht so gern mit Dolmetschern. – Sie sind sicher, dass der, den Sie gesehen haben, Dolochow war?«
Das eben ist die Frage.
Als ich gegen Mitternacht heimkomme, ist Oskar noch nicht da. Ich bin die vielen Stufen zu meiner Altbauwohnung mehr hinaufgekrochen als gegangen. Ich habe mich nach Oskar gesehnt und danach, neben ihm einzuschlafen. Beschützt. Beruhigt. Ich sehe auf meinen Anrufbeantworter. Keine neue Nachricht. Ich sehe auf mein Mobiltelefon. Keine neuen SMS , kein Anruf, den ich überhört hätte. Ich weiß, dass er mit Klienten aus Deutschland, die erst mit einer Abendmaschine aus Berlin gekommen sind, unterwegs ist. In den vergangenen Wochen hat er manchmal in seiner Wohnung übernachtet, wenn irgendein Treffen zu lange gedauert hat. Dorthin kann er zu Fuß gehen. Seine Dachterrassenwohnung liegt zwar nicht gerade am Graben, aber doch sehr zentral. Ich trinke einen Schluck aus der Whiskeyflasche, zu müde, ein Glas zu nehmen, den obligaten Tropfen Wasser in den Whiskey zu geben. »Wenn er sich Sorgen um mich macht, warum ist er dann nicht bei mir?«, denke ich trotzig. Gismo streicht um meine Beine und gähnt.
»Gehen wir schlafen«, sage ich zu ihr, und die Worte hallen seltsam hohl von den Wänden wider. Zehn Minuten später hat sich Gismo am Fußende des Bettes eingekringelt, und ich drehe mich von einer Seite auf die andere und kann nicht einschlafen. Dabei bin ich todmüde. Vielleicht gerade deshalb. Vielleicht, weil ich wissen möchte, wo Oskar steckt. Schafe zählen. Bei Schaf vierzehn verzähle ich mich und ärgere mich und kann jetzt erst recht nicht schlafen. Ich habe den Wecker auf acht Uhr gestellt. Bis vierzehn Uhr muss meine Reportage fertig sein, der Platz ist reserviert. Eigentlich sollte ich früher aufstehen. Vielleicht wache ich ja von selbst auf, tröste ich mich und drehe mich auf den Rücken. Als Dolochow im Weinviertel war, war Dolochow in Wien schon tot. Die Russen auf der Brünner Straße hat ein Reh erlegt. Meine Gedanken spielen Fangen. Es ist zu heiß hier drinnen. Ich stehe wieder auf, kippe das Fenster. Tappe ins Vorzimmer. Im Stiegenhaus geht das Licht an. Oskar. Üblicherweise läutet er unten, bevor er heraufkommt. Aber um diese Uhrzeit wird er annehmen, dass ich schon schlafe. Schritte im Treppenhaus. Ich lausche. Täusche ich mich? Sie klingen nicht wie Oskars Schritte. Wer könnte um die Zeit sonst noch hier heraufgehen? Die Schritte der Studentinnen neben mir klingen mit Sicherheit leichter. Und die anderen Hausbewohner schlafen wohl längst. Ich lausche angestrengt. Vielleicht habe ich mit meinen Recherchen zu viel Staub aufgewirbelt. Da gibt es welche, die morden. Die foltern. Ich lege die Sicherheitskette vor und merke, dass meine Hände zittern. Quatsch. Es ist Oskar, wer kann schon jemanden mit Sicherheit an den Schritten erkennen? Ich bin eben etwas durcheinander. Kein Wunder. Jetzt höre ich die Schritte schon auf dem vorletzten Treppenabsatz, gleich wird Oskar ums Eck biegen. Ich starre durch den Spion nach draußen, viel sehe ich nicht, nur die Umrisse eines Mannes auf dem Treppenabsatz. Er ist zu klein und zu schlank für Oskar. Das Licht im Stiegenhaus geht aus. Ich halte die Luft an. Vesna. Zuckerbrot. Ich muss jemanden anrufen, ich muss Hilfe holen. Wenn etwas passiert, bist du allein, Mira. Mein Herz hämmert. Die Schritte. Sie sind langsamer geworden, ich kann nichts sehen, aber der Mann bewegt sich auf meine Tür zu. Irgendeinen schweren Gegenstand brauche ich. Etwas, womit ich mich wehren kann. Du spinnst, er wird eine ganz andere Waffe haben. Die Türe müsste halten, zumindest eine Zeit lang. Weißt du, wie leicht russische Gangster eine Altbautür öffnen? Ohne das kleinste Geräusch. Und die Sicherheitskette kann man durchzwicken. Ich höre sein Keuchen. Ich versuche, flach zu atmen, er darf mich nicht wahrnehmen. Ich greife vorsichtig nach meinem Mobiltelefon auf dem Vorzimmertischchen. Vesnas Nummer habe ich auf Taste drei eingespeichert.
Verdammt! Das Mobiltelefon rutscht mir aus der Hand, es donnert geradezu zu Boden, der Mann muss es gehört haben. Er weiß jetzt, dass ich im Vorzimmer bin. Wo kann ich mich verstecken? Sinnlos. Der findet dich. Fünf Stockwerke über der Straße. Ich gehe in die Knie, um das Telefon aufzuheben, und lausche dabei weiter wie gebannt. Draußen ist es still. Ganz still. Ich höre sogar, dass meine Katze Gismo leise schnarcht.
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