Russen kommen
dauert länger, als der Flug zur Grenze zwischen Österreich und Deutschland gedauert hat. Der Bus hält mitten im Ort, ich sehe mich irritiert um. Nur wenige Menschen sind auf der Straße, nichts mehr vom internationalen Skitreiben, der Schnee auf der Straße ist verschwunden, graubrauner Weg, staubig. Der Ort ist entzaubert, wirkt wie eine Filmkulisse, in der momentan nicht gedreht wird. Dafür wird sie repariert, ausgebessert, erweitert. Ich gehe in Richtung »Sonnenhof«. Mit meiner Nottasche, die wie immer im Auto war, habe ich leichtes Gepäck. Da steht ein Kran vor einem Hotel, dort ein Betonmischwagen, weiter hinten zwei Kastenwagen einer Elektrofirma. Vorletzte Woche war Saisonschluss. Aber dass der Übergang derart abrupt ist? Auf den Bergen rundum liegt noch Schnee, einige der steileren Abfahrten sind braun, da war die Sonne wohl schon zu stark. Das dämmrige Abendlicht verstärkt den Eindruck einer Kunstlandschaft. Hotel an Hotel, keines scheint mehr geöffnet zu sein. Dann ein Schild: »Haus Hochalm, offen bis 15. Mai.« Skitouren werden wohl noch möglich sein, überlege ich. Aber ich kenne mich da nicht sonderlich aus. Und ich habe nicht vor, mich ins Schneegelände zu begeben. Hoffentlich ist im »Sonnenhof« noch jemand. Ich gehe die steile Kurve bergan, ein Kran auch hinter dem »Sonnenhof«. Ist ja schon was. Guggenbauer wird die Arbeiten wohl überwachen müssen.
An der Eingangstür des »Sonnenhofes« ein Schild: »Geschlossen bis Mitte November.« Ich versuche es trotzdem, drücke die Klinke, rüttle an der Tür. Versperrt. Ich sehe ratlos durch das Fenster, hinter dem sich die Rezeption befindet. Sie ist verweist.
»Suchen Sie jemanden?«, sagt eine Stimme hinter mir, ich fahre herum.
Eine halbe Stunde später stehe ich auf dem Balkon eines Zimmers im »Sonnenhof«. Es ist dunkel geworden, die Baugeräusche sind verstummt, nur wenige Lichter im Ort. Anders als vor zwei Wochen, auch keine Ratracks mehr, die, bewegten Sternen gleich, hoch oben auf- und abfahren. Ich kann mir vorstellen, wie diese Alm war, bevor sie für den Tourismus entdeckt wurde. Ein einsames Hochtal, umgeben von mächtigen Bergen. Die Tochter der Guggenbauers hat mir ein Zimmer gegeben, sie haben einige für die Arbeiter vorbereitet, hat sie erzählt. Es sei überhaupt kein Problem, bei ihnen zu übernachten, nur das Personal sei bis auf zwei Leute schon weg. Schade, ich hatte gehofft, gerade von den Kellnern einiges zu erfahren. Ich bin müde. Ich atme tief durch. Hier auf dem Balkon schmecke ich sie wieder, die klare Luft von vor zwei Wochen.
Ich sollte längst nach unten gehen. Hanni Guggenbauer ist zurück, sie war in Bregenz einkaufen.
»Ich habe Ihre Reportage gelesen«, sagt die Hotelbesitzerin, als wir einander bei einem Glas Wein gegenübersitzen. Als ich das letzte Mal da war, gab es einen heftigen Konkurrenzkampf unter den Gästen um die bequemen ausladenden Fauteuils und Bänke im Raum hinter der Bar. Heute sind wir allein. »Sie haben den Toten wirklich selbst gesehen?«, fragt sie.
Ich nicke. Die Brandwunden. Die Maden. Der Gestank.
»Dolochow war am Arlberg«, rede ich weiter. »Ich habe ihn im ›Zirben‹ getroffen. Wissen Sie, was er hier gemacht hat?«
»Ski fahren, was sonst? Er kommt, glaube ich, jedes Jahr.«
Ich seufze. »Sein Bruder, der Oligarch Dolochow, war letztes Jahr da, mit der Familie, zum ersten und bisher letzten Mal. Der, den ich im ›Zirben‹ gesehen habe, muss Wassili Dolochow gewesen sein. Er ist der Tote.«
Hanni Guggenbauer schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine Ahnung hatte, dass es zwei Dolochows gab.«
»Wassili könnte es recht gewesen sein, wenn ihn alle für seinen reichen Bruder gehalten haben.« Oder es war doch Boris Dolochow, der hier war und geheime Geschäfte machen wollte. Vielleicht hat er sich mit mir getroffen, um aus mir herauszubringen, wie viel ich von der Arlberg-Sache weiß. Aber nicht er, sondern ich habe davon angefangen. Er ist geschickt. Mira, unterschätze ihn nicht.
»Ich habe mich nicht darum gekümmert«, meint Hanni Guggenbauer. »Es gibt immer wieder ein paar Superreiche hier im Ort, aber sie sehen auch nicht anders aus als alle anderen. Und sie wollen alle dasselbe: schöne Ferien haben. Wir fragen nicht, wer sie sind.«
»Neben dem Skifahren werden auch Geschäfte gemacht«, ergänze ich und denke an das Treffen zwischen Oskar und seinem Frankfurter Partner. Hoffentlich hat Vesna Oskar erreicht. Hoffentlich ist er
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