Russen kommen
Stimmt gar nicht. Ich muss mir ein neues Reportagenthema ausdenken, das jedenfalls. Aber ich bin nicht verpflichtet, jede Woche eine große Reportage zu liefern. Wäre auch ein bisschen viel verlangt. Allerdings: Ich bekomme ein Fixum, pro Reportage verdiene ich dazu. Ein Thema von gesellschaftlicher Relevanz, das sich »Magazin«-gerecht verpacken lässt.
Die nächsten Tage hätte ich Zeit für ein weiteres Essen mit dem Chefredakteur. Man muss überlegen, wie man die auflagenstärkste Wochenzeitung verbessern kann. Und vorsichtig vom schrillen Boulevard-Image befreit. Unterhaltsam soll sie bleiben. Aber eben auch informativ. Und Storys enthalten, die andere nicht haben. Ich sollte nicht träumen, ich sollte in die Redaktion fahren.
Telefon. Das neue Gerät mit der Wertkarte. Eigentlich brauche ich es gar nicht mehr, aber wenn ich es schon habe …
»Ist nicht einfach, an Flemming zu kommen«, sagt Vesna.
Ich hole Luft. »Vesna, musst du auch nicht. Ich schreibe ein Dossier mit allen Fakten, das bekommt Zuckerbrot. Und damit hat sich die Sache. Die nächste Reportage erscheint heute Abend. Und damit ist Schluss. Ich habe es Oskar versprochen.«
Schweigen. Dann: »Ich glaube nicht.«
»Ich habe, ohne Namen zu nennen, auch von Flemming und von Welser geschrieben. Der Rest geht nur die Polizei etwas an. Wir kommen ohnehin nicht weiter.«
»›Nicht weiter‹ nennst du das? So gut wie alles, was bekannt ist, haben wir herausgefunden.«
»Ja, aber nur, weil die Ermittler den Medien nichts erzählen. Diesmal halten sie wirklich dicht.«
»Und warum? Hast du dich das schon gefragt, Mira Valensky? Warum? Ich kann dir Antwort geben: Weil sie Ruhe haben wollen.«
Da ist schon etwas dran, das sei ein »Ministerfall« hat Zuckerbrot ganz zu Beginn gesagt. Und der Ministersekretär hat unseren Chefredakteur gewarnt, dass die Regierung keine Verschlechterung der Beziehungen mit Moskau zulassen werde. Weil Geld im Spiel sei, viel Geld. Wirtschaftsinteressen.
»Was ist, Mira Valensky, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Ich wollte fragen, ob du nach Leipzig kommst. Ich habe Fehler gemacht. Ich wollte mich einschleichen, alte Methode, habe getan, als ob ich Putzfrau in Betrieb von Flemming war. Aber idiotisch, die haben eine Putzfirma engagiert, bei der nur Männer arbeiten, aus Weißrussland. Konnte ich nicht wissen, bin aufgeflogen und mit knapper Not davon. Weiß nicht, ob Flemming davon erfahren hat, gesehen hat er mich nicht, und ob mich andere wiedererkennen würden, ist auch nicht klar, war ich mit Kopftuch und so. Aber … besser wäre, du bist da. Und wir suchen andere Methode.«
Ich überlege. Ich muss ja nicht über den Fall schreiben. Oskar ist nicht da. Ich kann tun, als würde ich mich in meiner Wohnung vergraben, nachdenken, mich regenerieren. Man würde es mir abnehmen. »Gestern war Warnung, Grüße aus Moskau.« Wer immer es geschrieben hat. Und von wo aus immer.
»Ich ruf dich zurück«, sage ich lahm und schaue ins Internet. Flug nach Leipzig, heute Nachmittag, neunundvierzig Euro. Kann ich mir leisten. Und ich möchte zu gerne wissen, ob der seltsame Universitätsprofessor für Rechtsgeschichte die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht geht es selbst Oskar nicht bloß um mich, sondern auch um die Ruhe, die heilige Ruhe, die gewahrt werden soll.
Der Leipziger Flughafen ist viel größer als gedacht. Lange, helle Gänge, rechts Glasflächen, durch die man grauen Asphalt und Flugzeuge und blauen Himmel sieht. Links Auslage neben Auslage. Taschen, Schuhe, Parfüms, T-Shirts, ein Friseur, wieder Taschen und Accessoires, ein Café namens »Iljuschin 18«, Reminiszenz an das Flugwesen der DDR , Bücher, Luxuslebensmittel. Wie der Flughafen wohl vor dem Fall der Berliner Mauer ausgesehen hat? So lange ist das noch gar nicht her, gerade einmal eine Generation. So gut wie alle, die hier arbeiten, sind unter einem anderen Regime aufgewachsen, einem, das ihnen einreden wollte, dass es mit Solidarität zu tun habe, wenn niemandem etwas gehöre, es aber ein paar Niemande geben müsse, die verwalten, was ja doch existiere. Kein Wunder, dass es hier viel nachzuholen gibt. »Geiz ist geil«, lese ich, den Werbespruch gibt es bei uns auch, ich gehe seither nicht mehr bei dieser Kette einkaufen, viel mehr kann ich auch nicht tun. Ich folge den Aufschriften Richtung Ausgang, ich habe nur eine kleine Tasche gepackt, brauche nicht aufs Fluggepäck zu warten. Ich sehe eine lange Menschenschlange vor der Gepäckskontrolle.
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