Russen kommen
Die junge Russin Sonja. Angeblich Dolmetscherin. Sachow, Manager von »Direktinvest«. Was, wenn sie mit dem Geld durchgegangen sind? Andererseits: Was, wenn sie nie Zugang zum Geld hatten? Wer hat es dann? Der Oligarch? Der Familienmensch, der Fotos seiner Lieben herzeigt und seinem an der österreichischen Grenze gefallenen Großvater eine Kapelle bauen lassen will?
Ich bringe den klaren Fond zum Kochen. Die ganz andere Möglichkeit: Weinviertler an der Grenze, die sich mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende an einem der superreichen Russen als an »dem Russen« für Vergewaltigung, Mord, Diebstahl, vielleicht auch für den Sieg über die Nazis rächen. Und wie passt da der Stich in meinen Oberarm dazu? Die E-Mail? Wer sagt, dass die »Grüße« wirklich aus Moskau gekommen sind? Sie könnten auch aus einem verschlafenen Ort in Niederösterreich stammen.
Eigentlich müsste Oskar schon da sein. Ich habe den Eindruck, wenn wir in meiner Wohnung sind, dann lässt er sich ab und zu mehr Zeit. Es ist keine Dauerlösung, eine Woche hier, eine Woche dort. Aber was ist schon von Dauer? Ich schüttle den Kopf. Es gibt keinen Grund, deprimiert zu sein. Ganz im Gegenteil. Ich habe eine Menge herausgefunden, es ist nur die Frage, wie sich die Fakten und die Vermutungen miteinander verknüpfen lassen. Ich erinnere mich plötzlich an eine Latein-Schularbeit. Ich konnte Latein nie leiden, hätte viel lieber eine zweite lebende Fremdsprache gelernt, und lateinische Vokabeln mochte ich schon gar nicht. Wozu Worte einer toten Sprache büffeln? Bei der Schularbeit war ein Text von Latein ins Deutsche zu übersetzen. Ich habe es mithilfe des Lateinwörterbuchs, des berühmten »Stowasser«, versucht. Ich war sehr zufrieden mit mir. Ich übersetzte eine wunderschöne Geschichte von zwei Tauben auf einem Dachbalken, die einander liebten. Ich bekam ein Nicht genügend. Bei richtiger Übersetzung wäre es um den Krieg zwischen zwei Völkern gegangen. Meine Lateinlehrerin, die mich aus unerfindlichen Gründen trotz allem gern mochte, hat zur Note noch eine Anmerkung geschrieben: »Schade! Deine Geschichte hat mir besser gefallen!« Im Lateinischen haben Wörter oft viele Bedeutungen. Ich habe für jedes Wort eine Bedeutung gesucht, die zu meiner Geschichte gepasst hat. Und die ersten, die naheliegenden Bedeutungen vergessen. Geht es mir beim Russen-Mord ebenso?
Es läutet, das ist Oskars Vorankündigung. Jetzt steigt er die vielen Stufen zu meiner Wohnung herauf. Ich lege die Rote-Rüben-Würfel in die kochende Fischsuppe, sie beginnt sich rot zu färben, schneide Karotte, Gelbe Rübe und Jungzwiebel in feine Scheiben. Oskar wird Augen machen, wenn ich ihm erzähle, dass Manninger in Moskau ist. Und er braucht sich nicht zu sorgen. Der Fall ist abgeschlossen für mich. Nicht genügend. Nein. Nicht einmal das stimmt, es war eine der aufsehenerregendsten Covergeschichten des Jahres.
In fünf Minuten ist die Suppe dunkelrot, die Würfel bissfest. Oskar sitzt an meinem massiven Allzwecktisch, ich habe ihn abgeräumt, vom Arbeitstisch wieder in einen Esstisch verwandelt, sogar einen Kerzenleuchter hingestellt, mit Stoffservietten gedeckt. Er wirkt nicht besonders begeistert, als ich von einer Roten-Rüben-Suppe spreche. Mal sehen. Prosecco ist eingeschenkt. Ich gebe ganz wenig Hot Sauce in die Suppe, lasse sie sprudelnd aufkochen, lege die sechs großen Jakobsmuscheln und das Gemüse ein. Warten, bis die Suppe wieder zu perlen beginnt. Flamme abdrehen. Drei Minuten ziehen lassen, die Jakobsmuscheln sollen innen noch glasig sein.
Ich richte meine Rote-Rüben-Suppe der besonderen Art in vorgewärmten tiefen weißen Pastatellern an, ein guter Kontrast.
Oskar meint, etwas so Gutes habe er schon lange nicht gegessen. Es gibt also doch Dinge, die mir ganz gelingen.
Vesna ist nach Leipzig gefahren. Sie hat mir bloß eine SMS geschickt, nicht lange gefragt, ob ich das möchte. Sie kommt gar nicht auf die Idee, dass ich den Russen-Fall sein lassen könnte. Sie hat den Zug genommen. Oder ist sie vielleicht vor ihren beiden Männern auf der Flucht? Oskar muss für zwei Tage nach Bozen. Er hat mich nach unserem russisch angehauchten Abendessen gefragt, ob ich mitkommen möchte. »Ich hab allerdings nicht viel Zeit dort«, hat er ergänzt. Hat nicht so geklungen, als wäre er beleidigt, wenn ich in Wien bleibe. Ich mag Bozen, sein Flair, den südlichen Touch, den großartigen Obstmarkt. Ich habe gesagt, dass ich zu viel zu tun habe. Stimmt nicht.
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