Russen kommen
zurück aufs Land, wo es weder Gucci noch Modeschmuck gibt, weder Hotdog-Stände noch Supermärkte, weder Wachpersonal noch hohe Häuser. Manchmal nicht einmal asphaltierte Straßen und fließendes Wasser.
Kremlmauer, davor werden gerade Springbrunnen renoviert. Einer der Putztrupps sitzt auf einem riesigen Pferd aus Gusseisen und schrubbt es. Ich mache ein Foto und denke mir, auch die Zaren waren offenbar schon Weltmeister in schlechtem Geschmack. Die Springbrunnen sollen eindeutig Märchenszenen nachbilden, Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts, rate ich. So scheußlich, dass es fast schon wieder schön ist.
Ich löse eine Eintrittskarte in den Kreml. Wenn man hier war, muss man ihn gesehen haben. »Führung?« »Erklärung?« »You need a guide?« Junge Mädchen, ältere Herren, russische Frauen, die aussehen wie Geschichtslehrerinnen, bemühen sich um mich. Ich bin irritiert. Die meisten von ihnen scheinen erkannt zu haben, dass ich Deutsch spreche. Woran sieht man das? Ich schüttle den Kopf, sage: »Danke, spasiba«, und trabe bald, umgeben von anderen Besuchern, zwischen erstaunlich vielen Kirchen umher. Ich dachte, der Kreml sei der Sitz der Zaren gewesen. Aber die Kirchen dominieren die weltlichen Prunkgebäude. Dort hinten ist jene, die ich von Karlas Fenster aus gesehen habe. Bislang kannte ich sie nur aus dem Fernsehen. Goldene Kuppeln im Sonnenlicht des russischen Frühlings. Gemeinsam mit einer schwedischen Touristengruppe staune ich über eine riesige Kanone. Beinahe hätte ich die Zeit übersehen. Ich soll um dreizehn Uhr wieder zurück sein, haben wir vereinbart. Ich hetze Richtung Ausgang. Drei Limousinen. An sich ist der Kreml für den Verkehr gesperrt. Ich starre ihnen nach. Dort drüben scheint der Regierungssitz zu sein, ein beinahe schmuckloses Gebäude. Ich steige vom Gehsteig, will etwas näher hin. Plötzlich ein schriller Pfeifton. Polizist, er wedelt mit den Armen und sieht mich böse an. Er will, dass ich zurück auf den Gehsteig gehe. Warum? Weil es sich so gehört? Damit Fußgänger keine Autofahrer belästigen können? Weil es aus Staatssicherheitsgründen geboten scheint?
Eigentlich wäre es besser, die Metro zu nehmen. Aber ich weiß nicht, wie ich die richtige Linie finden soll, der Metroplan auf meinem kleinen Stadtplan verwirrt mich. Also bahne ich mir rasch einen Weg durch die Menschen und hoffe, auch zu Fuß halbwegs pünktlich zurück zu sein. Karla hat mir einen Schlüssel und einen Ausweis gegeben, ich passiere den Wachposten des Wohnblocks ohne Probleme, fahre mit dem Aufzug nach oben. Ich läute kurz, will nicht ohne Anmeldung eindringen, sperre dann auf. »Karla?«, rufe ich, aber es kommt keine Antwort. Dafür höre ich etwas. Jetzt erst fällt mir wieder ein, dass es Menschen gibt, die meine Nachforschungen nicht mögen. Mein Herz macht einen seiner berühmten Sprünge. Ich schleiche in Richtung Geräusch. In der Küche ist jemand. Durch die Milchglastüre sehe ich, dass es nicht Karla sein kann. Die Silhouette ist deutlich größer. Der Körper massiger. Karla lebt alleine. Da scheint jemand etwas in den Küchenkästen zu suchen. Plötzlich dreht sich der Jemand um, öffnet die Tür. Eine Frau. Ein Wischtuch in der Hand. Ein russischer Redeschwall. Lächeln. Bedauern. Sie kein Deutsch, kein Englisch. Ich kein Russisch. Aber mir ist klar: Das ist Karlas Putzfrau.
Karla kommt einige Minuten später, und sie hat Neuigkeiten für mich.
»Sachow hat eine Wohnung in Moskau, sie wird von der Miliz kontrolliert, aber er war schon lange nicht mehr dort. Wahrscheinlich ist er bei irgendjemandem untergetaucht. In Moskau muss man sich zwar binnen drei Tagen anmelden, auch wenn man nur vorübergehend den Wohnsitz wechselt, aber wenn man es nicht tut …« Sie zuckt mit den Schultern. »Oder er wohnt außerhalb von Moskau. Zu den Melderegistern auf dem Land habe ich keinen Zugang, eine Auskunft aus St. Petersburg bekomme ich morgen. Moskau und Petersburg funktionieren. In den anderen Städten und auf dem Land ist es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Nur der Verfall geht weiter.« Sie seufzt.
»Du musst es mir nicht sagen, aber: Woher bekommst du deine Informationen?« Diese Frage beschäftigt mich schon, seit sie das mit Dolochows Zwillingsbruder herausgefunden hat.
Karla lächelt. »Ich lebe seit Langem in dem Land. Ich habe Freunde. In Russland hält man viel auf Freundschaft. Vor allem als es sonst noch nicht viel gab, hat man viel darauf gehalten. Und ich kenne Menschen,
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