Russisch Blut
auch, dachte sie. Nur Zyniker nennen das ausgleichende Gerechtigkeit.
Als sie zurückkam zum Schloß, schien niemand da zu sein. Auf dem Schloßplatz paradierten drei Pfauen und zeigten sich gegenseitig ihre prächtigen Schwanzfedern. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben, die noch heil waren. Katalina blieb wie angewurzelt stehen. Die vier überlebensgroßen Marmorfiguren, die in der Kuppel des Glockenturms standen, schienen sich zu bewegen im unklaren Licht. Und hinter den mannshohen Sprossenfenstern irrlichterte etwas. Das war nicht der Widerschein des Abendlichts. Ganz bestimmt nicht.
Der Mann ohne Kopf. Die weiße Frau. Sie wunderte sich über ihr Unbehagen. Seit wann war sie abergläubisch?
In dieser Nacht ließ sie im Kutscherhaus ein Licht an im Flur.
5
Frühling 1945, Ankunft in Blanckenburg
Am Tag, als der Krieg zu Ende war, blühte der Flieder. Und jetzt war die Kirschenzeit bereits vorbei und die Äpfel noch nicht reif. Das Land wirkte wie kahlgefressen von den Flüchtlingsmassen, die von Osten und Süden durch Deutschland fluteten und die Vorräte an Menschlichkeit und Lebensmitteln aufgezehrt hatten.
Mathilde marschierte mit leichtem Gepäck Richtung Harz, dessen Umrisse sie am Horizont zu erkennen glaubte. Der Rucksack war gestohlen worden auf einer der Fahrten in überfüllten Zügen, das Silberbesteck mit ihren Initialen hatte sie eingetauscht und von den Stiefeln mußte sie sich kurz vor der Elbe trennen. Sie war barfuß weitergelaufen, bis sie auf einen englischen Offizier traf, der ihre blonden Haare und graublauen Augen bestaunte und ihr Armeestiefel schenkte. Mathildes Füße hatten sich noch nicht an den festen Halt gewöhnt, den die Schuhe ihr gaben. Bloß keine Blasen kriegen, dachte sie und bewegte die Zehen, jetzt noch, so kurz vor dem Ziel.
Blanckenburg war nicht mehr weit. Ob Gregor da sein würde? Es wäre ein Wunder.
Sie glaubte nicht, daß er tot war. Aber sie vermißte ein Echo, wenn sie an ihn dachte. Ob es daran lag, daß sie versucht hatte, das innere Band zwischen ihm und ihr nicht zu überdehnen mit all dem, was weh tat? Gewalt und Raub, Gier und Neid – und Überlebensangst in den Gesichtern, die ihr begegnet waren auf der langen Flucht.
Oder war es – das andere? Sie spürte die Veränderung mit jedem Tag. Sie verwandelte sich. Es verwandelte sie.
Sie versuchte, nicht an ihre Füße zu denken. Statt dessen begann sie, mit offenen Augen zu träumen – von der Erfüllung der einfachsten, der großartigsten Wünsche: in einem richtigen Bett schlafen. Unter Menschen allein sein dürfen. Durch die Bibliothek gehen und endlich wieder ein Buch in die Hand nehmen. Mathilde versuchte, die vertrauten Fingerübungen zu machen, erst mit der linken, dann mit der rechten Hand: Klavierspielen!
Sie trat an den Straßenrand und wartete, bis die beiden Armeelastwagen vorbeigefahren waren. Vielleicht gab es sogar etwas zu essen.
Abends war sie angekommen. Von fern boten Stadt und Schloß den gewohnten Anblick: oben die mächtige Barockanlage, unten ein spitzer Kirchturm über Fachwerkhäusern und Jugendstilvillen. Aber noch vor der Stadtmauer begannen die Schuttberge und Trümmerhalden. Mathilde nahm den steilen Fußweg hoch zum Schloß. Der Geruch der erkalteten Brandstätten wurde intensiver, je näher sie kam. Das Ausmaß der Zerstörung war von oben erst richtig zu erkennen. Das Pförtnerhaus unterhalb des Schlosses war zerbombt, Bäume lagen zersplittert im Park. Und nach einer weiteren Wegbiegung sah sie etwas, das ihr den Atem nahm: die Schloßkirche war getroffen worden, das Hauptschiff zerstört und der Turm ausgebrannt.
Im Schloßhof wimmelte es von Menschen. Flüchtlingsfrauen wuschen Wäsche, Männer mit Krücken rauchten dünne Zigaretten, ein Trupp gellend schreiender Kinder lief ihr entgegen. Mathilde bahnte sich den Weg zum Eingang.
In der Schloßküche war es heiß. Als sie vor Ella stand, wußte Mathilde sekundenlang nicht, was sie sagen sollte. Die ehemals rundliche Köchin hatte unnatürlich große, fiebrig glänzende Augen im blassen Gesicht. »Kindchen«, sagte sie zur Begrüßung. Und dann schossen ihr die Tränen in die Augen.
Sie hielten sich lange umschlungen, weinend. Dies hier war das erste Stück Heimat seit langem.
Endlich löste sich Ella verlegen lächelnd aus der Umarmung und sagte: »Du mußt ja ausgehungert sein!« Und dann saß Mathilde am großen Tisch, vor sich einen Teller mit Suppe und Brot, neben sich die
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