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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Strickjacke an sich gepreßt hielt. Sie mußte ans Ende des Seitenschiffes gelangen, dort führte eine Tür hinunter zur Krypta. Als sie endlich davorstand, blickte sie zurück. Über dem aufgerissenen Hauptschiff rötete sich der Himmel. Niemand war ihr gefolgt.
    Beim Schein der Kerze, die sie mitgebracht hatte, stieg sie die schmale Treppe hinunter. Hier unten stand die Luft, faulig und brandig. Beutesucher und Plünderer hatten Zerstörung und Exkremente hinterlassen. Die Tür zur Familiengruft war aufgebrochen. Was mochten sie hier gesucht haben? Schädel, Knochen, Grabbeigaben? Mathilde hob die Kerze. Die Kindersärge waren geöffnet worden und die Deckel beiseitegeschoben, einige lagen zerborsten am Boden, in einem der kleinen Sarkophage sah man Tuchreste und winzige Knochen. Sie ging den Mittelgang entlang. Auch am Katafalk in der Mitte des Raumes hatten sich die Grabräuber versucht. Aber der gußeiserne Deckel hatte widerstanden.
    Unter ihren Füßen raschelten vertrocknete Kränze und Blumengebinde. Als Kinder hatten sie sich oft hier hinuntergeschlichen, an heißen Sommertagen. Damals war es ein Vergnügen gewesen, sich zu gruseln. Mathilde gruselte nichts mehr. Sie kannte Schlimmeres. Und war nicht dieser Ort der Toten angesichts der Ruinen draußen und der Dunkelheit, in die Deutschland zurückgefallen war, ein Hort des Friedens? Die hier lagen, waren wenigstens bestattet worden.
    Die ältesten Särge standen am Ende des Gewölbes. Nicht weit davon blieb sie stehen – vor einem schlichten grauen Steintrog mit einem Deckel, durch den ein Riß ging. Der hier bestattet lag, war ihr Schutzheiliger gewesen, damals, als Folkert noch lebte und Gregor noch keinerlei Ähnlichkeit mit dem finsteren Herrn erkennen ließ, der sein Vorfahre war. Gregor Gawan Graf von Hartenfels zu Blanckenburg, 1640 bis 1723, dessen überlebensgroßes Porträt im Kaminzimmer Blanckenburgs gehangen hatte und das nun verschwunden war, wie so vieles andere auch.
    Als sie noch ein Kind war, zu Besuch bei den Verwandten auf Blanckenburg, hatten sie bei einem Spiel namens Schatzsuche entdeckt, daß sich am Kopfende von Graf Gawans Sarkophag der steinerne Fußboden bewegte. Man konnte eine der grobbehauenen Platten aus dem Fußboden lösen. Sie erinnerte sich noch an die Begeisterung der beiden Brüder, als sie darunter einen Ring und eine schwarz angelaufene Silbermünze fanden.
    »Wir werden uns Nachrichten schreiben und sie hier hineinlegen«, hatte Folkert mit verschwörerisch gesenkter Stimme und leuchtenden Augen verkündet. Jahre später war er tot. Verendet – an einem Fleischerhaken baumelnd. Mathilde schloß die Augen. Es war vorbei. Das war vorbei.
    Ob alles noch dalag?
    Sie kniete sich auf den Boden neben dem Steinsarg und schob das Taschenmesser in einen kaum sichtbaren Spalt zwischen Platte und Fuge. Dann hebelte sie den Stein hoch.
    Sie hatte die Luft angehalten und atmete jetzt erleichtert aus. Hier hatte niemand nach Schätzen gesucht. Alles sah noch so aus, wie sie es zurückgelassen hatte: nur das Foto war stumpf geworden und die Rose vertrocknet. Sie hatte beides am Morgen nach einem unwirklich schönen Sommertag hineingelegt; der Krieg warf bereits Schatten. Gregor hatte sie am Abend zuvor bei den Händen gehalten und etwas von immer und ewig geflüstert – wie man das machte, in dieser untergegangenen Welt; sie sechzehn, er neunzehn. Und dann mußte er gehen. »Nach dem Krieg in Blanckenburg!« Sie hatten einander in die Augen gesehen bei diesem feierlichen Schwur. Wer konnte schon ahnen, was der Krieg aus ihnen machen würde. Und aus Blanckenburg.
    Mathilde hob Bild und Rose behutsam aus ihrer Höhle. Das Mädchen auf dem Foto sah ebenso ernst wie furchtlos in die Welt. Sechs Jahre war das her. Sie spürte ihre Brust eng werden. Sie war nicht mehr der Mensch, den Gregor geliebt hatte.
    Dann nahm sie seinen Brief aus dem zerknitterten Umschlag, den sie von Ella bekommen hatte. Sie kannte die Zeilen auswendig, sie hatte sie wie unter Schüttelfrost gelesen, immer und immer wieder.
    »Mathilde ist der Stern in der Nacht meiner Demütigung. Meine geheiligte Inbrunst, all die Jahre über. Edle Größe in süßer Gestalt. Ihre Reinheit war jedes Opfer wert.« Seine Worte waren herabgesunken und liegengeblieben, unverdaulich und kalt. Sie hatten sie bestärkt in ihrem Beschluß.
    Mathilde holte das flache Päckchen unter der Strickjacke hervor, das sie ein halbes Jahr lang bei sich getragen hatte; es war noch warm von

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