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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Köchin, die so wie früher, als sie noch ein Kind gewesen war, aufpaßte, daß sie den Teller auch leer aß. Ella erzählte, leise, erst stockend, dann immer schneller.
    Von der Bombardierung Halberstadts. Von den letzten Kämpfen auf dem Hexentanzplatz. Vom Einmarsch der Amerikaner. Von der Weigerung des Stadtkommandanten, die Stadt kampflos zu übergeben. Von jenem Tag im April, als gegen elf Uhr morgens eine Bomberstaffel über dem Harzvorland auftauchte, dreizehn schnelle Thunderbolts, die auf Blanckenburg zuzutänzeln schienen, bevor sie ihre Fracht abluden.
    Mehr als sechzig zerstörte Gebäude. Über siebzig Tote. Die Kirschblüte hatte gerade begonnen.
    »Aber das schlimmste ist: Sie haben uns verraten. Sie überlassen uns den Russen. Der Graf ist fort. Die Wagen mit Möbeln und Büchern sind vorausgefahren. Alles andere –« Ihre Handbewegung umschrieb das Schloß und das, was dazugehörte, wie etwas, das bereits verschwunden war.
    Mathilde war für Sekunden wie gelähmt. Und dann setzte jene Ernüchterung ein, die sie den ganzen langen Weg über begleitet hatte. Sie sollte auch diesen Ort verlieren? Das mußte wohl so sein.
    »Erinnerst du dich an Matthias Klenke? Er ist zurück, als Berater der Roten Armee.« Ella klang verächtlich. »Er kam hoch ins Schloß und erzählte, wir seien enteignet und das Schloß gehöre ab sofort dem Volk. Ich hab ihn achtkant rausgeworfen.«
    »Weiß man etwas von Gregor?« Mathilde zögerte, bevor sie danach fragte. Plötzlich fürchtete sie die Antwort.
    »Er hat geschrieben, aus französischer Kriegsgefangenschaft. Halbverhungert wahrscheinlich. Aber er lebt.« Ella schüttelte mißbilligend den Kopf. »Und wir können ihm noch nicht einmal etwas schicken.«
    Mathilde lächelte unter all den Tränen, die plötzlich so loc ker saßen. Sie schrieb seit Wochen alles auf für ihn, jeden Tag ein Stückchen mehr, mit einem Bleistift, von dem mittlerweile kaum noch ein Stummel übrig war. Sie hoffte auf die richtigen Worte. Er sollte sie nicht mißverstehen.
    »Ich hab ihn da, den Brief.« Ella sah verlegen aus, als sie das Stück Papier aus der Schürzentasche holte, auf dem Küchentisch glattstrich und dann an Mathilde weiterreichte, die es stumm entgegennahm. Später. Später würde sie den Brief lesen.
    »Wann kommen die Russen?«
    »Am 23. Juli. Du mußt weg. Möglichst bald.«
    Ella baute ihr ein Bett neben ihrem eigenen, oben, in einem Zimmer auf dem Dienstbotenflur des Turmflügels. Mathilde schlief tief und fest, und als sie morgens erwachte, schwebte noch ein Traumbild am Rande ihres Bewußtseins, das schön und leicht und sonnig war. Mehr erinnerte sie nicht.
    Das Schloß kam ihr bemerkenswert ruhig vor, als sie hinunterging. Die britischen Soldaten waren fort. Die verwundeten Gefangenen auch. Ella stand allein in der großen Küche, ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen hatten noch immer diesen seltsamen Glanz. Und plötzlich schwankte sie. Mathilde war mit wenigen Schritten bei ihr. Die Hände der Köchin waren trocken und heiß. Sie faßte sie um die Schultern und zog sie auf einen Stuhl. Ella hustete, als sie sich hineinfallen ließ.
    »Du bist krank.«
    »Unsinn.« Der Husten schüttelte den schmalen Körper. Und dann brach die treueste Seele von Schloß Blanckenburg zusammen.
    Ella fieberte. Mathilde wagte nicht, sie zu verlassen. Aber seit sie den Brief gelesen hatte, wußte sie, was zu tun war. Sie deckte die Kranke zu und schlüpfte aus dem Zimmer.
    Den ganzen Tag über hatte es geregnet auf ausgedörrte Wiesen und staubige Straßen, und jetzt stiegen Nebel aus dem Flußtal. Mathilde näherte sich der Kirche mit abergläubischer Vorsicht. Der Glockenturm war ein zerklüfteter Stumpf, das Hauptschiff ausgebrannt. Was hinderte einen strafenden Gott, Rache zu nehmen und auch noch diese geborstenen Mauern fallen und auf sie herabstürzen zu lassen?
    Sie kletterte über Gesteinsbrocken und Gebälk, über Säulen und Pilaster, über Heiligenköpfe und Dämonenfratzen. Durch eine Bresche in der Schutthalde gelangte sie in das Seitenschiff, dessen Kreuzgewölbe dem Luftangriff standgehalten hatte. Es roch nach wilden Tieren.
    Die Marienstatue war fast unversehrt. Auf ihren Schultern hatten sich Mörtelbrocken niedergelassen und hockten da wie Tauben oder Spatzen. Ein herabstürzender Stein mußte ihr die segnende Hand abgeschlagen haben.
    Mathilde stieg vorsichtig über die beweglichen Schuttmassen. Ihre Hand tastete nach dem Päckchen, das sie unter der

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