Russisch Blut
ihrem Körper. Sie faltete die Serviette auseinander, die nicht mehr weiß war, sondern fleckig von Schweiß und Schmutz und Blut. Die Bilder waren nicht groß, barocke Miniaturen, zwei davon Email auf Gold, Porträts von Anna Katharina und Friedrich von Jechow, angefertigt von Peter Boy. Das dritte zeigte einen hakennasigen Herrn mit strahlend blauen Augen. Seine Oberlippe war zu schmal, seine Unterlippe zu ausladend. Von den Nasenflügeln zogen sich scharfe Linien hinunter zu den Mundwinkeln. Graf Gawan. Pastell auf Elfenbein. Rosalba Carriera. Wenn man den grimmigen Gesichtsausdruck durch ein heiteres Lächeln ersetzte, konnte man ihn für Gregor halten. Die Miniatur war sein Verlobungsgeschenk gewesen.
Sie wickelte alle drei Bilder wieder sorgfältig ein und bettete sie zuunterst in die Höhle im Fußboden. Die Kerze, die sie auf den Steinsarg gestellt hatte, flackerte im Lufthauch, der durch das Gewölbe strich, als ob er etwas suche. Ihre Hand schien in dem warmen Licht zu zittern. Sie zögerte. Dann legte sie die vielen Seiten hinzu, die sie beschrieben hatte in den letzten Wochen. Das Foto. Die Rose, die ihr in den Händen zerfiel. Sie zögerte, bevor sie die Steinplatte wieder herabsenkte. Er würde nicht verstehen. Jetzt nicht. Aber vielleicht … später.
Falls er überhaupt zurückkommt nach Blanckenburg, sagte eine kalte Stimme in ihr. Und falls er das alles dann noch wissen will.
Sie richtete sich auf, nicht mehr mit der alten Leichtigkeit, die sie gewohnt war. Sie spürte die Veränderung. Es begann etwas Neues, das seine Ansprüche an sie anmeldete. Vorsichtig tastete sie sich zurück, die schmale Treppe hoch, hinaus in die warme duftende Abendluft.
Ella starb im Schlaf. Mathilde löste behutsam die erstarrten Finger, die sich um ihre Hand gelegt hatten und zog die Stiefel an. Es war Zeit.
Der Schloßhof war menschenleer. Aus dem Neuen Flügel hörte sie Stimmen, Gelächter. Und ein Klavier. Chopin. Wanja? Fast wäre sie stehengeblieben, um den Klängen zu lauschen. Dann hörte sie Schritte. Sie duckte sich gerade noch rechtzeitig unter den Torbogen und wartete, bis sich die Schritte entfernten. Dann war sie auf dem Weg hinunter zur Stadt. Die Russen waren gekommen.
Im Gemeindehaus brannte Licht. Es gab etwas zu essen, ein paar Decken, eine Pritsche. Sie schlief nicht in den wenigen Stunden bis Sonnenaufgang. Sie dachte an den Brief.
Gregor hatte den Brief an seine Eltern adressiert, aber er war geöffnet worden, wahrscheinlich von der Zensur. Nichts stand darin über die Gefangenschaft, über die Zustände in dem französischen Lager, über die Aussichten, bald freizukommen. Der Brief war eine Hymne an die Zukunft. Und eine Hymne an seine künftige Frau.
Diese Worte, diese quälenden, entsetzlichen Worte. »Stern in der Nacht der Demütigung.«
»Geheiligte Inbrunst.«
»Edle Größe in süßer Gestalt.«
Edle Größe. Reinheit. Mathilde hätte gern gelacht, aber ihr war nach weinen. Wie konnte man edel, groß und rein bleiben in diesen Zeiten? Wie sauber sein, wenn man durch Morast gelaufen war?
Es gab sie nicht mehr, die Welt, die sie einst mit Gregor teilte.
Deine Stella ist nicht mehr, dachte sie. Das Sternchen ist verglüht. Und Blanckenburg, unser Blanckenburg, wird nie mehr unser sein. Die Erbin von Jechow nennt sich ab sofort Mathilde Bergen. Sie ist schwanger, im schätzungsweise vierten Monat. Wie viele Väter für das Kind in Frage kommen, ist unbekannt. Sie hat keine Zeit mehr für hehre Worte und edle Größe. Sie will überleben, für sich und das Kind. Sie wird überleben.
Zwei Tage später machte sie sich auf den Weg. Je früher sie den Harz überquerte, desto besser. Als sie sich weit genug entfernt von Blanckenburg glaubte, drehte sie sich um. Das Schloß lag da, wie es seit Jahrhunderten auf dem weißen Kalkstein gestanden hatte. Neben ihm ragte die Turmruine der zerstörten Schloßkirche in den blassen Himmel.
Die Welt stand still. Und dann schoß eine Staubfontäne lautlos in den Himmel, dahinter verzerrten sich die Konturen des Kirchturms. Seine Säulen und Pilaster schienen zu schweben, bevor sie ineinanderstürzten. Und in einer weiteren aufbrandenden Rauchwolke, mit einem mächtigen Grollen, versank die Kirche von Schloß Blanckenburg. Ihre Trümmer verschütteten den Ort, an dem Mathilde von Bergen niedergelegt hatte, was noch übrig war von ihrem vergangenen Leben.
Sie hatten den Turm über der Krypta gesprengt.
Teil 2
1
Der Geruch fiel sie an, sobald
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