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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sie die Tür geöffnet hatte, er war ihr vertraut, sie kannte ihn viel zu gut. Katalinas Schritte hallten durch die Räume mit den leeren Wänden. Die Praxis von Dr. Gotsky war in einem erbärmlichen Zustand. Der Fußboden, eine Art Linoleum, hatte Flecken und Dellen und Einkerbungen, an den Wänden hingen schwärzliche Spinnweben, die stockfleckigen Tapeten lösten sich bereits. In der Luft stand der Geruch nach Desinfektionsmittel und nassen Hunden mit chronisch gereiztem Zahnfleisch.
    Sie hatte nicht die Absicht, allzuviel Geld in die Praxis hineinzustecken, nur das Nötigste sollte getan werden, aber selbst das sah nach Arbeit für Wochen aus. Katalina lehnte sich in den Türrahmen und studierte die abgegriffenen Standardras setafeln für Pferde und Rinder und die anderen eselsohrigen Plakate an den Wänden, auf denen für Floh- und Wurmmittel geworben wurde. Einige der dort genannten Medikamente waren schon vor Jahren aus dem Verkehr gezogen worden. War das wirklich so eine gute Idee gewesen, alle Brücken hinter sich abzubrechen und ausgerechnet hierhin zu flüchten?
    »Wer nirgendwo bleiben kann, ist niemals frei«, hatte der vorletzte ihrer Männer einmal gesagt. Es war eine kluge Bemerkung gewesen – das einzige, was sie daran gestört hatte, war der Vorwurf, der darin mitschwang. Zwei Monate später hatte sie ihre Koffer gepackt.
    Warum nur kam der Neuanfang in Blanckenburg ihr diesmal nicht wie eine Befreiung vor? Sie löste sich von der Tür und ging zum Fenster. Sie hatte heute Nacht geträumt, bis in die Morgenstunden, als eine Nachtigall vor ihrem Fenster zu schlagen begann. Seit sie in Blanckenburg angekommen war, quälten die alten Dämonen sie wieder. Alles war da, alles, was sie zu verdrängen gelernt hatte. Vor allem Gavro. Das tat am meisten weh, denn jeder Traum von ihm, von seinem Lachen, seinen Küssen, seinen Worten, endete mit dem Erwachen in einem Leben, in dem es ihn nicht mehr gab.
    Sie riß sich aus ihren Gedanken und öffnete die Tür zu einem dritten Raum. Ein, zwei Sekunden lang hielt sie die Luft an. Hier roch es nicht, es stank. Dr. Gotsky hatte alles, was er nicht mehr benötigte, in das fensterlose Zimmer gepackt: einen ramponierten Behandlungstisch, Besucherstühle, die noch aus tiefsten DDR-Zeiten stammen mußten, Medikamente, Verbandszeug und eine Kiste voller Instrumente, die ganz so aussahen, als ob sie bereits Sammlerwert hätten.
    Katalina bückte sich und holte das stählerne Maulgatter hervor, mit dem man Pferden den Mund aufsperrte, damit man ihnen die Zähne stutzen konnte. Erfreulicherweise hatte es der alte Herr Gotsky schon zu einer bohrmaschinenbetriebenen Raspel gebracht, das sparte Betäubungsmittel und schweißtreibende Handarbeit. Tatsächlich sah alles noch einigermaßen brauchbar aus: die Kastrationszangen in allen Größen, die roten Nasen-Schlund-Sonden und das Wurfzeug für Pferde, diverse Faßzangen für die Geburtshilfe und ein Embryotron. Hoffentlich mußte sie das so bald nicht einsetzen. Man holt damit tote Kälber stückweise aus dem Bauch der Mutterkuh.
    Sie ging wieder nach nebenan, öffnete die Fenster und begann, Blanckenburgs Handwerker abzutelefonieren. Beim Elektriker meldete sich niemand. Beim Klempner brüllte im Hintergrund ein Kleinkind. Die Klempnersfrau war freundlich, aber ausweichend. »Hoffentlich wird das auch was mit Ihrer Praxis. Soweit ich gehört habe … Naja: sicher ist das nicht, aber der Eigentümer will alles so lassen, wie es ist. Sagt mein Mann.« Der offenbar an diesem Auftrag nicht interessiert war.
    Ihre Laune näherte sich dem Nullpunkt. Sie schloß die Fenster, verließ die Wohnung und ging am mittelalterlichen Rathaus vorbei über den Markt bis zu der schmalen Treppe, die vom Städtchen hoch zum Schloß führte. Je höher sie stieg, desto stärker spürte sie den Sog, der von dem grauen Koloß ausging. Es war kein angenehmes Gefühl.
    Als sie im Kutscherhaus ankam, war sie angespannt und gereizt. Der Kaffee von heute morgen schmeckte nicht mehr, er war in der Warmhaltekanne lauwarm und sauer geworden. Sie zuckte genervt zusammen, als das Mobiltelefon schnarrend auf dem Küchentisch vibrierte, bevor es zu piepsen begann. Mit ein paar Schritten war sie beim Küchentisch. »Ja?« sagte sie ins Telefon, während sie sich auf den Stuhl sinken ließ.
    »Sprechen Sie lauter!« Eine ungeduldige Stimme. »Sind Sie die neue Tierärztin?« Eine mißtrauische Stimme.
    Sie atmete tief ein. Eine Kundin. »Das ist richtig. Hier ist

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