Russisch Blut
und schaute elegisch aus dem Fenster auf eine Landschaft mit Flußlauf. Katalinas Blick streifte die alte Bibel. Zwei der Stiche, die daneben standen, zeigten Blanckenburg, wie es einmal gewesen war. Ein Städtchen zu Füßen des Schlosses. Das Schloß selbst in barocker Vollkommenheit – die Mauer, der Hof, auch das Traiteurshaus waren zu erkennen. Katalina kniff die Augen zusammen und versuchte, alle Details zu erfassen. Im wesentlichen stimmte das Alte mit dem Neuen überein, nur eines fehlte heute: die Kirche, die sich auf dem Stich neben dem Schloß erhob. Sie mußte da gestanden haben, wo sie vorgestern die alten Grabsteine entdeckt hatte, auf dem Plateau in südlicher Richtung. Ein Kriegsschaden? Oder kommunistischer Vandalismus?
»Noa!« Alma mäkelte schon wieder an ihrer Tochter herum. Katalina begann, sich nach einem ruhigen Abend im Kutscherhaus zu sehnen. Dann setzte man sich endlich zu Tisch.
Alma kochte keineswegs schlecht; diesmal gab es keinen »Schweinefraß«, sondern eine zarte Lammkeule. Aber der Impuls, der Alma ihre Einladung hatte aussprechen lassen, schien verflogen. Die Spannung zwischen Mutter und Tochter ließ jedes Gespräch ersterben. Als Katalina sich bedankte und verabschiedete, wirkte niemand traurig.
Draußen in der frischen Nachtluft atmete sie tief durch. Vielleicht war es doch von Vorteil, keine Kinder zu haben. Der Gedanke kämpfte kurz mit dem Schmerz, den die Erinnerung enthielt. Dann schüttelte sie ihn ab. Das war vorbei.
Erst als sie fast vor dem Kutscherhaus stand, fiel ihr auf, daß sie ihren Schal über der Stuhllehne im Eßzimmer hängengelassen hatte. Ein Blick zurück zeigte ihr, daß noch Licht war im Traiteurshaus. Kurz entschlossen lief sie zurück, drückte die Eingangstür auf und ging durch den Flur zur Küche.
»Ich habe mein Tuch vergessen«, rief sie zu Alma hinüber, die sich erschrocken umdrehte. Ihr wäre gar nicht aufgefallen, daß sie etwas zu verbergen hatte, wenn sie nicht so bemüht gewesen wäre, ihren ausladenden Leib vor das zu schieben, was auf dem Küchentisch stand. Ein Tablett mit einem Glas Rotwein und mit einem Teller, von dem Dampf aufstieg.
»Gute Nacht!«
Alma antwortete nicht. Als Katalina wieder im Park stand und sich zum Haus umdrehte, wurden unten die Lichter ausgeschaltet. Dafür sah sie oben im zweiten Stock eine Lampe angehen. Und dann – nein, diesmal täuschte sie sich nicht. Es brannte Licht im Turmflügel des Schlosses, im ersten Stock, dort, wo man nicht hingehen durfte, weil alles angeblich so baufällig war.
Aber das war nicht die erste Lüge, die man ihr in Schloß Blanckenburg aufgetischt hatte.
2
»You won’t be lost, hurt, tired and lonely, something beautiful will come your way.« Katalina drehte den Walkman lauter. Es war ein anstrengender Tag gewesen.
Sie hatte zwei Hunde entwurmt, einen alten Gaul gegen Mauke behandelt, ein Kälbchen aus dem Mutterleib geholt, eine ganze Herde Ferkel geimpft und eine einsame Katzenfreundin getröstet. Wenn das so weiterging, würde sie den Tierbesitzern Blanckenburgs bald nichts mehr beweisen müssen. Und nebenbei hatte sie mit den örtlichen Handwerkern gekämpft, die allesamt taten, als ob sie beide Hände voll zu tun hätten. Manchmal fragte sie sich, warum sie das Angebot eines Bekannten nicht angenommen hatte, ihr einen Trupp schneller Polen zu schicken. Dann sähe es in der Praxis von Dr. Gotsky bereits ganz anders aus.
Katalina schaltete, trat etwas kräftiger in die Pedale und fuhr im Schrittempo die steile Auffahrt zum Schloß hoch. Sie hatte sich überraschend schnell wieder ans Fahrradfahren gewöhnt, es begann sogar Spaß zu machen. Alles war intensiver, vom Sattel aus gesehen: die Landschaft, die Gerüche, die Farben, die Laute. Und außerdem vermochten ein paar kräftige Tritte in die Pedale die Spinnweben zu vertreiben, die nächtliche Träume beim Aufwachen hinterließen. Träume, die immer um das gleiche kreisten.
Als sie durch die Allee auf das Schloßtor zufuhr, war es wieder da, das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen. Und heute täuschte sie sich nicht: Es gab Licht im Schloß. Licht? Das war untertrieben – der Neue Flügel rechts vom Turm war illuminiert, jedenfalls im Parterre. Zwei seiner Eingangstüren standen offen, durch die vielen tiefgezogenen Fenster erkannte man eine Gestalt, die geschäftig durch den Raum ging.
Sie stieg ab und lehnte das Rad an einen Holunder, der aus dem Pflaster im Schloßhof gebrochen war. Das Schloß war
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