Russische Orchidee
ungeniert an und winkte ihm sogar zu. »Lisa, vielleicht könnten Sie sich auch mal bedanken? Immerhin habe ich Ihren Koffer vom Band gehoben, einen Gepäckwagenfür sie gesucht, und Sie haben mir immer noch keine Antwort gegeben, ob Sie mich in Ihre Sendung einladen wollen oder nicht. Oh, pardon, ich sehe, Ihnen steht der Sinn nicht nach mir. Ihr gesetzlicher Gatte steuert auf uns zu. Was für eine wundervolle Szene!«
Doch die wundervolle Szene kam nicht zustande. Juri verschwand in der Menge. Die Geschwindigkeit, mit der Krassawtschenko zum Ausgang stürzte, machte Lisa klar, daß sie noch einige unangenehme Überraschungen zu erwarten hatte.
Als Lisa den Zoll passiert hatte und ihrem Mann einen Kuß gab, hörte man hinter ihr ein aufgeregtes Flüstern: »Und ich sage dir, das ist sie! Ganz bestimmt!«
Michail Beljajew lud das Gepäck in den Kofferraum. Lisa schaute sich auf dem Parkplatz um und bemerkte in einiger Entfernung Juris dunkelblauen Opel. Neben dem Wagen standen Juri und Krassawtschenko. Beide rauchten.
»So, setz dich rein, wir können losfahren«, hörte sie ihren Mann sagen. »Nadja hat zur Feier deiner Rückkehr eine Pizza gebacken. Ob sie was geworden ist, weiß ich nicht. Und Witja ist gestern mit einem Mädchen aufgekreuzt. Es heißt Olga, ist sehr hübsch und vor allem überhaupt nicht aufgetakelt, ohne Hörner und Hufe.«
»Wie meinst du das?«
»Na, heute geben sie sich doch alle dämonisch, drehen sich irgendwelche wilden Hörner aus ihren Haaren, ziehen meterhohe Hufe an die Füße, und auf zum Hexensabbat, um sich dort in Veitstänzen zu verrenken. Übrigens, unsere Nadja will jetzt auch Schuhe mit Plateausohlen. Ich habe ihr gesagt, nur über meine Leiche.«
Als sie den Parkplatz verließen, kamen sie ganz nahe an dem Opel vorbei. Juri saß am Steuer und hielt irgendein Buch in der Hand.
Ja, natürlich, ein Buch, dachte Lisa spöttisch. Die Videokassette ist das. Krassawtschenko hat schon eine Kopie machen lassen, und sicher ist das nicht die einzige.
Das Handy klingelte, als sie im Bad war. Ihr Mann streckte seine Hand durch die Tür.
»Gehst du ran? Oder soll ich sagen, du kannst jetzt nicht?«
»Ich gehe ran, danke.«
»Wie ist denn das gekommen, Lisa?« hörte sie eine gedämpfte, heisere Stimme. »Wie konnte dir so etwas passieren?«
»Bist du sicher, daß ich das bin?« fragte sie leise. »Hast du genau hingeschaut?«
»Allerdings.« Er lachte hart und unangenehm auf. »Ich habe sehr genau hingeschaut.«
»Juri, bitte hör mich ganz ruhig an, ohne alle Emotionen. Die Sache ist die, daß ich mich an absolut nichts erinnern kann.«
Es klopfte an der Tür.
»Mama, kommst du bald?« fragte Nadja. »Papa und Witja streiten sich um die Pullover, beiden gefällt der mit dem dunklen Muster, und die Größen sind gleich. Und außerdem wird die Pizza kalt.«
»Sofort, Kleines«, rief Lisa zurück und legte die Hand über das Telefon.
»Ich weiß, ich habe keinerlei Rechte dir gegenüber«, klang Juris Stimme aus dem Hörer, »aber du mußt auch begreifen, wie sehr mich das kränkt. Am Telefon hast du gesagt, du wirst erpreßt. Aber bei einem derartigen Lebenswandel, du mußt schon entschuldigen, ist das auch kein Wunder. Etwas vorsichtiger könntest du wirklich sein.«
»Juri, was redest du? Was für ein Lebenswandel? Was heißt vorsichtiger?«
»Lisa, mach wenigstens dir selber nichts vor. Na schön, es ist passiert. So was kommt vor.« Er lachte spöttisch. »Und ich alter Idiot mache mir Illusionen.«
»Juri, hör auf. Wir reden darüber, wenn ich komme. Nimm das bitte nicht so ernst.«
»Entschuldige, ich bin vielleicht etwas altmodisch, aber solche Dinge kann ich nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Du schließt also die Möglichkeit aus, daß ich es gar nicht bin?«
»Ich bin doch nicht total verblödet. Das bist du, Lisa. Und du fühlst dich pudelwohl dabei.«
An der Tür wurde erneut geklopft.
»Mama, wie lange dauert das denn noch?« erkundigte sich Witja unzufrieden. »Nadja macht die Pizza schon zum zweiten Mal warm.«
»Ja, Witja, ich bin gleich fertig. Juri, bitte beruhige dich. Morgen komme ich zu dir, nach der Sendung. Ich muß mir die Kassette selber mal ansehen.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Kapitel 36
Im August 1917 gab es bereits keine Polizisten mehr in Rußland. Statt dessen existierte eine sogenannte Volksmiliz, aber wo man sie finden und an wen man sich dort wenden sollte, wußte niemand.
»So ein Unglück, und das alles
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