Russische Orchidee
Bildschirms beleuchtet wurde, kam ihr schrecklich blaß, aber ruhig vor.
»Es gibt ja hier keine einzige Großaufnahme. Auf den ersten Blick sieht es natürlich so aus, als wärst du das«, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Also bin ich es nun oder nicht?« Unwillkürlich mußte Lisa lächeln, so idiotisch klang ihre Frage. Plötzlich sprang sie vom Sofa auf und drückte auf die Standbildtaste der Fernbedienung. Das Bild erstarrte. »In meinem Hotelzimmer hatte das Bett ein ganz anderes Kopfende. Hoch und rund, aus dunklem Holz. Und die Bettwäsche war auch anders. Aber vor allem müßte man aus dieser Perspektive das Fenster sehen, und aus dem Fenster die Kathedrale. Hier ist alles trübe und verwischt. Gut, das Kopfende braucht man nicht deutlich zu erkennen, die Wäsche kann man wechseln, aber nicht das Fenster und die Aussicht.«
»Das ist nicht das wichtigste«, sagte Michail, nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Videorecorder aus. »Die Dame auf dem Band hat knallrote, frischlackierte Nägel an Händen und Füßen. Und du bist gegen Azeton allergisch. Du hast dir noch nie im Leben die Nägel lackiert.«
Kapitel 38
Funken und glühende Holzstücke flogen aus dem brennenden Haus in alle Richtungen. Konstantin Baturin trug seine Tochter in den Gartenpavillon hinüber, ließ sie dort in Semjons Obhut und machte sich selber auf, Hilfe zu holen. Die Flammen drohten auf die benachbarten Gebäude überzugreifen. Sonja öffnete die Augen und erblickte zuerst das brennende Haus, dann das rote, versengte Gesicht Semjons.
Es dämmerte bereits, im Dorf kläfften und heulten wie wild die Hunde.
»Wie geht es dir? Tut der Kopf weh?«
»Nein. Mir ist nur kalt.«
»Wirklich? Mir ist ganz feucht und heiß, kein Wunder bei diesem Feuerchen. Wärm dich auf.« Er grinste und zwinkerte ihr vergnügt zu. »Hauptsache, wir sind noch am Leben, alles übrige wird sich schon finden. Aber was hast du denn, Sonja? Du bist doch unser großes Mädchen, wisch dir die Tränen ab.«
»Wieso, ich weine ja gar nicht.« Sonja rieb sich den schwarzen Ruß über die Wangen. »Ich weine überhaupt nicht. Das ist nur der Rauch, der in den Augen beißt.«
»Guck mal, hier ist dein Heft.« Semjon nahm ihr Tagebuch vom Tisch und reichte es ihr. »Ist zwar nicht viel, aber doch ein Stück Besitz.«
Das dicke Heft in dem dunkelblauen Wachstucheinband, das Tagebuch, das sie am Abend zuvor zufällig auf dem Tisch im Gartenpavillon liegengelassen hatte, war wirklich das einzige, was nicht verbrannt war. Zusammen mit Sonja reiste das Heft zuerst nach Moskau, zur Tante, dann nach Odessa und von dort auf einem überfüllten französischen Dampfer nach Konstantinopel.
Es war Februar 1918, ein trüber, kalter Monat. Auf dem Schwarzen Meer tobte ein heftiger Sturm. Schwankend und schaukelnd verschwand am Horizont der Hafen von Odessa. Das Ufer, das noch vor drei Monaten ein Teil von Rußland gewesen war, glitt davon. Aber niemand auf dem Schiff spürte den scharfen, quälenden Schmerz des endgültigen Verlustes, der einen normalen Menschen um den Verstand bringen kann.
Die durchlittenen Gefahren, die Sorgen der Gegenwart,die Suche nach einem Lebensunterhalt, die Notwendigkeit, die ganze Zeit etwas zu beschaffen, zu tauschen, zu verstecken, vor Dieben zu schützen, irgendwelche Arrangements zu treffen – das verdrängte zum Glück die Angst vor der Zukunft. Zukunft hieß für die heimatlosen Russen ein Stück Brot und Schweinespeck, ein Schlafplatz und eine warme Decke. Sie waren froh, daß sie auf einem französischen Schiff übers Meer fuhren und noch am Leben waren, nicht vor Hunger und Kälte gestorben waren, sich nicht mit Typhus angesteckt hatten, keine Kugel in den Kopf und kein proletarisches Bajonett zwischen die Rippen bekommen hatten. Was würde morgen sein? Für morgen war noch etwas Brot da, und die Franzosen hatten versprochen, vormittags kostenlosen Wein auszuschenken. Und übermorgen? Und in einem Jahr? Nun, in einem Jahr würde dieser rote Alptraum in Rußland gewiß vorüber sein, und man könnte nach Hause zurückkehren.
Wie durch ein Wunder war es Konstantin Baturin geglückt, für Sonja ein Bett in einer Kajüte in der zweiten Klasse zu bekommen. Der Dampfer war überfüllt, vom Seegang wurde vielen übel. In der zweiten Nacht, als das Meer sich ein wenig beruhigt hatte, begannen bei Sonja die Wehen.
Es fand sich Spiritus, es fanden sich saubere Bettlaken, aus der Schiffsküche brachte
Weitere Kostenlose Bücher