Russische Orchidee
tragen?«
»Auf keinen Fall«, ertönte neben ihr eine melodische Frauenstimme. »Sie haben eine ganz wunderbare Augenfarbe.«
An ihrem Tisch stand eine Blondine in einem schwarzen Blazer, die Frau eines bekannten Politikers. Malzew erhob sich und küßte der Dame die Hand.
»In einer Woche feiern Mark und ich Silberne Hochzeit«, verkündete die Dame und setzte sich zu ihnen. »Wir würden uns freuen, Sie zu sehen. Zuerst gibt es ein Essen im ›Praga‹, anschließend einen kleinen Imbiß bei uns zu Hause, nur für unsere besten Freunde.«
»Danke, Nina, wir kommen bestimmt«, erwiderte Malzew und küßte ihr noch einmal die Hand.
Warja lächelte dankbar, aber gleich darauf gefror ihr Lächeln. Sie hatte bemerkt, wie Malzew auf die Hand der Dame starrte, auf einen Ring mit einem riesigen funkelnden Brillanten. Jedesmal überlief sie ein Kälteschauer, wenn er solche Augen bekam: kalt, aufmerksam und irrsinnig.
Kapitel 10
»Lisa, wie hat Ihrer Meinung nach die Finanzkrise die Geburtenzahlen in Rußland beeinflußt?« Die ältere Amerikanerin in dem weiten Folklorekleid und mit der mädchenhaftenroten Ponyfrisur, die die tiefen Falten auf der Stirn verdeckte, fixierte Jelisaweta Pawlowna mit leuchtenden dunkelbraunen Augen.
Lisa schaute gedankenverloren in die Auslage des Souvenirshops. Ihr Kaffee war längst kalt geworden, die Zigarette schwelte im Aschenbecher.
»Lisa, hören Sie mir überhaupt zu? Vor kurzem war eine Bekannte aus Moskau ein paar Tage bei mir zu Besuch. Sie heißt Jane und lebt als Korrespondentin von ›Lady’s Choice‹ schon fünf Jahre in Moskau. Sie hat erschreckendes Material darüber mitgebracht, wie minderjährige Mädchen unerwünschte Schwangerschaften beenden. Manchmal werfen sie die Neugeborenen einfach auf den Müll.«
»Ja, das ist furchtbar«, stimmte Lisa zu.
Ihre Gesprächspartnerin, die eine heftigere Reaktion erwartet hatte, zog erstaunt die Brauen hoch und preßte die Lippen zusammen.
»Entschuldigen Sie, Lisa, ich bin ein direkter, offener Mensch. Ich sage immer allen die Wahrheit ins Gesicht. Bei euch in Rußland hat sich so eine Gleichgültigkeit breitgemacht. Früher war das anders.«
»Man kann nicht allen helfen, Carrie.«
»Ihr wart doch immer das mitfühlendste Volk von der Welt, und jetzt seid ihr so erbarmungslos und zynisch geworden. Hängt das etwa mit den demokratischen Reformen zusammen? Hat die Freiheit einen so schädlichen Einfluß auf die russische Seele?«
»Ich weiß nicht …« Lisa wußte wirklich nicht, was sie darauf antworten sollte. Vermutlich hatte die Amerikanerin nicht ganz unrecht, doch andere zu verurteilen ist leicht.
»Aber wer soll es dann wissen, wenn nicht Sie? Ganz Rußland hört und sieht Sie fast jeden Abend.«
»Ich vermittle nur die Nachrichten, konstatiere Fakten.«
»Das verpflichtet.«
»Zweifellos.«
»Übrigens hat Jane auch noch zwei Videos gedreht. Über Heime für geistig behinderte Kinder in der Provinz und über Strafkolonien für minderjährige Kriminelle, in denen sich auch junge Kindesmörderinnen befinden. Schreckliche Szenen, die Filme sind noch nicht geschnitten. Jane hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie nicht Teile davon in einer Ihrer Sendungen bringen wollen.«
»Ja, das wäre sicher interessant«, nickte Lisa gleichgültig und schaute auf die Uhr.
»Interessant? Meiner Meinung nach muß das unbedingt in Rußland gezeigt werden. Ich habe schon lange nicht mehr etwas so Erschütterndes gesehen. Mir liefen die Tränen übers Gesicht bei diesen entsetzlichen Bildern. Als Vertreterin der Frauenbewegung bin ich der Ansicht, daß Sie die Pflicht haben, diesen Film Ihren Zuschauern zu zeigen. Soweit ich weiß, ist Empfängnisverhütung bis heute in Rußland allein Sache der Frauen.«
Lisa betrachtete schweigend die dekorativ in der Vitrine gruppierten Eisbären und Robben aus weißem Plüsch.
»Entweder sind Sie heute sehr müde, oder bei Ihnen zeigen sich bereits die ersten Symptome der neuen russischen Krankheit – pathologische Gleichgültigkeit.« Die Amerikanerin lächelte kalt. »Man hat ja den Eindruck, als sei Ihnen alles egal. Absolut alles.«
Was will sie von mir? dachte Lisa müde. Gefühlsausbrüche? Schon den dritten Abend nacheinander verwickelt sie mich in sozialpsychologische Diskussionen. Gestern haben wir die traurige Situation der russischen Rentner erörtert, die Korruptheit des Beamtenapparats und seine engen Verbindungen zur kriminellen Unterwelt, die schlimmen Übergriffe in
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