Russische Orchidee
versuchte der Graf sich zu erschießen, aber die Pistole versagte. Am nächsten Morgen reichte er sein Entlassungsgesuch ein, und eine Woche später zog er zu seiner Frau nach Boljakino.
Kapitel 21
Artjom Butejko hatte in seinem kurzen Leben wahrhaftig eine Menge Gift verspritzt. Borodin hörte sich die Kassetten mit den Interviews an und war entgeistert über die Taktlosigkeit der Fragen. Vor allem aber begriff er überhaupt nicht, wen das alles interessierte.
»Den ersten Orgasmus in Ihrem Leben haben Sie also im Kindergarten gehabt?« tönte Butejkos monotone hohe Stimme vom Band.
»Ja. Die Kinderfrau wischte den Boden, es war gerade Mittagsruhe, direkt vor mir sah ich ihren gewaltigen Hintern, der von dem dünnen Kittel straff umspannt wurde«, hörte man die Stimme eines bekannten Popsängers antworten.
Borodins Mutter steckte den Kopf ins Zimmer.
»Komm essen, Junge!«
»Sofort, Mama«, sagte Borodin und lauschte weiter.
»Hat dein erster Geschlechtsakt einen wesentlichen Einfluß auf deine Persönlichkeit gehabt?« fragte Butejko auf dem Band mit lauter Stimme.
»Ja, weil es nämlich nicht geklappt hat. Ich war so aufgeregt, daß ich schon fertig war, noch bevor ich die Hose ausgezogen hatte. Ich war zwölf, und sie war dreiundzwanzig«, erwiderte der Sänger.
Borodin schaltete das Band ab.
»Wenn das wieder so ein perverser Mörder ist, dann iß lieber zuerst, und hör dir danach die Aufzeichnung des Verhörs an«, sagte seine Mutter ärgerlich, »sonst hast du wieder keinen Appetit. Ich habe Hähnchenschnitzel gebraten, geh und wasch dir die Hände.«
Lidija Borodina war dreiundsiebzig. Ihr ganzes Leben hatte sie als Kunsthistorikerin im Puschkin-Museum gearbeitet, ihr Spezialgebiet war die russische Porträtmalerei vom Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie war schon seit fünf Jahren pensioniert, aber noch immer saß sie ständig in den Archiven des Museums, beschäftigte sich mit wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, schrieb Bücher. Außerdem wandten sich häufig Sammler an sie, um sich von ihr beraten zu lassen, neue Russen, die ihr Geld in Kunstwerken anlegen wollten, aber auch die Ermittler der Moskauer Miliz und die Zollbeamten, kurz gesagt jeder, der die Meinung eines Fachmanns zum Thema Porträtmalerei brauchte. Dabei beklagte sie sich gern über ihre schwache Gesundheit, und auf die Frage »Wie fühlen Sie sich?« antwortete sie regelmäßig: »Ach, fragen Sie besser nicht. Schrecklich. Gestern habe ich es nur mit Müh und Not bis zum Konservatorium geschafft, dort trat Kissin auf und spielte Skrjabin. Aber was sollte ich machen – so etwas darf man sich doch nicht entgehen lassen!«
»Hast du wieder einen Sexualmörder, Iljuscha?« fragteLidija Borodina neugierig, als ihr Sohn sich an den Tisch setzte.
»Nein. Diesmal ist es der Mord an einem Journalisten.«
»Ah, dann verstehe ich, warum auf dem Band all diese medizinischen Offenbarungen zu hören sind. Heute ist es ja Mode, in aller Öffentlichkeit die intimsten Dinge auszubreiten. Wie viele Schnitzel willst du haben?«
»Drei. Sie sind ja ziemlich klein.«
»Wie heißt er?«
»Artjom Butejko.«
»Höre ich zum ersten Mal.«
»Die Schnitzel sind hervorragend. Sag mal, wo ist der Pfeffer geblieben?«
»Du brauchst keinen Pfeffer, mein Junge. Von dem scharfen Zeug kriegst du nur Sodbrennen. Wahrscheinlich hat man deinen Journalisten umgebracht, weil er seine Nase zu tief in anderer Leute Intimleben gesteckt hat.«
»Mama, die Leute, denen er seine taktlosen Fragen gestellt hat, hätten das Gespräch mit ihm ja ablehnen können.«
»Dann erst recht! Die eigene Dummheit zu akzeptieren fällt den Menschen viel schwerer, als fremde Taktlosigkeit und sogar fremde Grausamkeit zu ertragen.«
»Also, jetzt übertreibst du aber, Mama«, brummte Borodin, stand auf und schaute in die Anrichte.
»Wenn du den Pfeffer suchst, den habe ich weggeworfen. Ich übertreibe gar nicht. Denk doch an den Fall mit dem angeblichen Filmregisseur, den du vor vier Jahren hattest. Denk an Warja Bogdanowa, das Mädchen, das der Miliz geholfen hat, ihn zu finden, das dann im Prozeß aufgetreten ist und anschließend versucht hat, sich umzubringen.« Lidija Borodina seufzte. »Wir haben sie doch zusammen im Krankenhaus besucht. Sie hat gesagt, das schlimmste für sie sei nicht die Gewalt gewesen, nicht die Gemeinheiten, die sieerdulden mußte. Am meisten habe sie darunter gelitten, daß sie freiwillig mitgegangen sei, daß
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