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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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du mir gar nichts erzählt.«
    »Alles habe ich dir erzählt, aber du behältst ja wie Sherlock Holmes nur das, was dir für deine Arbeit wichtig erscheint. Du sparst Platz, so als wäre dein Kopf eine Art Bücherschrank.«
    »Sherlock Holmes hat das Gedächtnis mit einem Dachboden verglichen, nicht mit einem Bücherschrank.«
    »Das ist doch egal. Manchmal kann das, was dir heute unbedeutend vorkommt, morgen ein unentbehrliches Glied in der Beweiskette sein. Aber darum geht es jetzt nicht. Du wirst kalt und herzlos, Iljuscha. Nicht nur die Ereignisse, auch die Menschen sortierst du schon nach dem Grad ihrer Wichtigkeit für deine jeweilige Ermittlung.«
    »Trotzdem, Mama, von diesem Kerl mit der Fernsehkamera, der Warja Bogdanowa verfolgt hat, hast du mir nichts erzählt«, sagte Borodin.
    »Doch, das habe ich. Nur hattest du damals noch keinen Fall, in dem ein Skandalreporter ermordet wurde.«

Kapitel 22
    »Was ist passiert, Herr Krassawtschenko? Sie wollten doch abfliegen«, sagte Lisa auf englisch und maß ihn mit einem kalten, gleichgültigen Blick.
    »Wie geht es Ihnen?« fragte er ebenfalls auf englisch und setzte sich, ohne eine Einladung abzuwarten, an ihren Tisch. »Ich habe mir ernstlich Sorgen um Sie gemacht, Sie sahen gestern sehr schlecht aus, waren so blaß und zerstreut. Meinen Sie nicht auch«, wandte er sich mit vertraulichem Lächeln an die Amerikanerin, »daß russische Frauen viel zuviel arbeiten und viel zu selten an Erholung denken?«
    »Sie haben vermutlich recht«, erwiderte Carrie mit einem kühlen Kopfnicken und stand auf. »Die Pause ist in fünf Minuten zu Ende. Ich warte im Konferenzsaal auf Sie, Lisa.« Sie schaute sie mit einem vielsagenden Blick an und ließ die beiden dann allein.
    »Ich habe bei der hiesigen Polizei Anzeige erstattet«, sagte Lisa leise auf russisch, »man hat mir bereits Blut abgenommen, und in wenigen Stunden wird man wissen, welche Substanz Sie in den Wein getan haben.«
    In seinen Augen war nicht der Schatten eines Erschreckens zu sehen. Er blickte sie mit kalter Neugier an, so wie man eine Maus im Labor betrachtet.
    »Bluffen Sie nicht, das ist ganz und gar nicht in Ihrem Interesse. Sie haben sich nicht an die Polizei gewandt undwerden es auch nicht tun. Es gibt gar nichts, was Sie anzeigen könnten. Außerdem fliegen Sie schon in zwei Tagen nach Hause. Ihre Arbeit wartet auf Sie, Ihre Familie und noch jemand, nach dem Sie schon große Sehnsucht haben. Und bei der Polizei sitzen hier, wie überall, lauter Bürokraten. Angenommen – was ziemlich unwahrscheinlich ist –, Ihre Anzeige wird bearbeitet. Dann beginnt eine langwierige Untersuchung, man wird Sie in Kanada festhalten, noch dazu auf Ihre Kosten. Das ist teuer, lästig und vor allem völlig nutzlos. Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Sie sind am Leben, gesund, sehen hervorragend aus, und gestohlen hat man Ihnen auch nichts.«
    »Sie haben mir irgendeine Psychodroge in den Wein geschüttet.«
    »Mein Gott, Jelisaweta Pawlowna«, sagte Krassawtschenko lachend, »für wen halten Sie mich?«
    Lisa wußte nicht, was sie erwidern sollte. Aber sie brauchte auch nicht mehr zu antworten. Die Teilnehmer der Konferenz wurden bereits zum dritten Mal gebeten, in den Sitzungssaal zurückzukehren. Die Pause war zu Ende. An ihrem Tisch tauchte wie aus dem Boden gewachsen die mächtige Gestalt des norwegischen Professors Hans Hansen auf, er faßte Lisa unter den Arm.
    »Wir werden uns verspäten, meine Lady.«
    Am Eingang zum Saal holte Krassawtschenko sie ein.
    »Sie sind wirklich erstaunlich zerstreut, Jelisaweta Pawlowna. Sie verlieren und vergessen alles.« Er verdrehte theatralisch die Augen und verkündete laut auf englisch: »Da sieht man, was die Liebe aus einer Frau macht!«
    »Verschwinden Sie«, zischte Lisa auf russisch.
    »Jelisaweta Pawlowna, seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen«, erwiderte er leise. »Hier, nehmen Sie, Sie haben Ihre Konferenzunterlagen auf dem Tisch liegenlassen.Nach der Sitzung erwarte ich Sie an der Bar im elften Stock.«
    »Da können Sie lange warten.«
    »Das glaube ich nicht. Sie werden sofort kommen. Angerannt werden Sie kommen.« Er lächelte ihr schmelzend zu und verschwand in der Menge.
    Im Saal suchte Lisa nach Carrie. Die Amerikanerin blätterte in ihren Unterlagen, markierte einzelne Absätze mit farbigem Stift, schrieb Frage- und Ausrufezeichen an den Rand.
    »Carrie, wir waren noch nicht zu Ende«, flüsterte Lisa ihr zu, als sie sich neben sie setzte.

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