Russische Orchidee
sie einverstanden war, zu diesem Perversen in die Wohnung zu gehen und sich sogar auszuziehen. Das hätte sie sich nicht verzeihen können und sich deshalb in die Moskwa gestürzt. So hat sie sich geschämt. Die Scham, Iljuscha, ist eins der stärksten menschlichen Gefühle.«
»Ich sehe keinen Zusammenhang«, murmelte Borodin, »was hat das mit dem Mord an dem Journalisten zu tun?«
»Das ist doch ganz einfach. Einer von den einflußreichen prominenten Leuten konnte sich nicht verzeihen, daß er sich von deinem Journalisten in so ein obszönes Gespräch hat ziehen lassen. Im Unterschied zu Warja hat er nicht versucht, sich selber umzubringen, sondern hat den Journalisten ermordet, weil der Journalist für ihn die lebendige Erinnerung an seinen peinlichen Ausrutscher war. Du hast ja den Kohl noch gar nicht probiert, mein Junge, er ist mir diesmal wirklich gut gelungen.«
Borodin nickte und kaute nachdenklich auf dem Sauerkohl mit Moosbeeren, schmeckte aber fast gar nichts.
Mama übertreibt wie immer und kompliziert den Fall. Was für einen Zusammenhang soll es zwischen Rafik Tenajan und dem Journalisten geben, dachte er.
Übrigens war Rafik für die Presse eine Zeitlang ein richtiger Held gewesen, die Journalisten rissen sich darum, ihn zu fotografieren und zu interviewen. Gut möglich, daß darunter auch Butejko gewesen war.
Borodin hielt zwar einen Zusammenhang für ausgeschlossen, dennoch stand ihm dieser vier Jahre alte Fall wieder deutlich vor Augen. Rafik Tenajan, ein Armenier aus Moskau, ausgebildeter Filmregisseur, sprach auf der Straße hübsche minderjährige Mädchen an, versprach ihnen Filmaufnahmen, zeigte ihnen sogar einen Mitgliedsausweis desVerbandes der Filmschaffenden, lud sie zu ersten Probeaufnahmen in seine Wohnung ein, betäubte sie mit einem Schlafmittel und vergewaltigte sie. Eins seiner letzten Opfer, die siebzehnjährige Warja Bogdanowa, blieb wie durch ein Wunder am Leben und führte die Ermittler direkt zu der Wohnung des Verbrechers.
Insgesamt dreizehn Mädchen waren ihm zum Opfer gefallen. Zwei starben an einer Überdosis des Schlafmittels. Eins wurde wahnsinnig. Warja war, ohne zu zögern, bereit, in der Gerichtsverhandlung aufzutreten, zeigte sich erstaunlich kaltblütig und tapfer, vergoß nicht eine Träne und verlor kein einziges Mal die Beherrschung. Eigentlich war es nur diesem Mädchen zu verdanken, daß Tenajan verhaftet und seine Schuld in allen Punkten bewiesen wurde.
Zwei Tage nach der Urteilsverkündung war Warja ins Wasser gesprungen. Gott sei Dank hielt in der Nähe gerade ein Streifenwagen der Miliz. Der junge Milizhauptmann rettete dem Mädchen das Leben.
»Ilja, hörst du mir zu? Oder tust du bloß so?« Lidija Borodina schaute ihren Sohn streng über die Brillengläser an. »Du sagst ›Ich sehe keinen Zusammenhang‹. Dabei war aber doch der letzte Auslöser für Warjas Selbstmordversuch die Begegnung mit einem Kollegen deiner jetzigen Leiche.«
»Was? Ich verstehe nicht, Mama …«
»Was ist daran nicht zu verstehen? Weißt du nicht mehr, wie begeistert sich die Presse auf diesen schmutzigen Fall gestürzt hat? Der wahnsinnige Verbrecher wurde ein richtiger Held, man hat mehrere Fernsehbeiträge über ihn gedreht, dann noch eine Dokumentation, und zahllose Artikel sind in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Warum interessieren sich die Leute nur für solche Widerwärtigkeiten?«
»Du übertreibst, Mama«, widersprach Borodin schwach.»Natürlich, krankhafte Grausamkeit weckt immer gesteigerte Neugier, aber doch längst nicht bei allen, nur bei Leuten, deren geistiges Niveau sehr niedrig ist.«
»Ach, Junge, wenn im Fernsehen weiterhin jeden Tag Talkshows laufen, in denen über Masturbation, Prostitution, Erektion und dergleichen diskutiert wird, dann sind die Menschen bald endgültig verrückt. Über einen Massenmörder wie Tschikatilo schreibt man heutzutage mehr als über Fjodor Dostojewski.«
»Mama, du hast eben davon gesprochen, daß der letzte Auslöser für Warjas Selbstmordversuch die Begegnung mit einem Journalisten war«, erinnerte Borodin sie vorsichtig, »erklär mir das doch bitte mal genauer, das interessiert mich.«
»Vor vier Jahren hat so ein Dreckskerl das unglückliche Mädchen mit einer Fernsehkamera verfolgt, um aus ihr pikante Details der tragischen Ereignisse herauszuquetschen. Übrigens hat er sie auch später nicht in Ruhe gelassen, ist sogar ins Krankenhaus eingedrungen und wollte sie dauernd interviewen.«
»Davon hast
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