Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
Vom Netzwerk:
Spurensicherung.«
    Damit war der Junge beschäftigt und kam gar nicht erst auf den Gedanken, sich im Metropol umzuschauen, wo es nur so wimmelte von Ausländern, hohen Tieren, Spekulanten und ähnlichen Gestalten - und daher auch NKWD-Agenten.
     

11
    Mit seinen sechs Stockwerken war das Metropol keineswegs das größte Gebäude am Teatralnaja-Platz, doch es genoss eine hervorragende Lage gegenüber dem Bolschoi-Theater, und an einem dunklen, bewölkten Tag wie diesem leuchteten die vielen hellen Fenster des Hotels dem Betrachter einladend entgegen. Mit seiner kunstvollen Mischung aus Art deco und russisch kaiserlichem Stil hatte sich das Haus eine Fin-de-Siecle-Eleganz bewahrt, die auch durch eine Aufschrift entlang des fünften Stocks kaum beeinträchtigt wurde: »Nur die Diktatur des Proletariats kann die Menschheit vom Joch des Kapitalismus befreien - W. I. Lenin«.
    Koroljow fand diese Losung immer ein wenig unfreundlich, da das Metropol in jüngerer Zeit vor allem wichtige Besucher aus dem Ausland und westliche Experten beherbergte, von denen vermutlich viele enthusiastische Befürworter des kapitalistischen Jochs und nicht besonders erpicht darauf waren, sich einer Diktatur des Proletariats zu unterwerfen. Immerhin - ob es den ausländischen Kapitalisten nun passte oder nicht - konnte jeder gewöhnliche sowjetische Arbeiter wie Koroljow das Metropol besuchen und sich ein Glas Bier bestellen. Trotz seines Glanzes gehörte das Hotel dem Staat, und der Staat war das Volk. Mit diesem ermutigenden Gedanken steuerte er auf den Eingang zu, immer in dem Bewusstsein, dass jeder Ort, wo sich Ausländer aufhielten, gefährlich war. Die meisten normalen Menschen schlugen einen weiten Bogen um das Metropol und überließen es den Apparatschiks, berühmten Schauspielern und anderen hohen Tieren, in ihrem Namen die rote Fahne hochzuhalten.
    Das Hotel gehörte zwar dem Volk, aber das hieß nicht, dass das Volk so verrückt war, sich dort blicken zu lassen.
    Koroljow nickte dem hochgewachsenen Portier zu und zeigte ihm seinen Ausweis. »Moskauer Kriminalmiliz. Wo finde ich die Direktion, Genosse?«
    Die Uniform des Portiers wies mehr goldene Litzen und Quasten auf als die eines zaristischen Generals, und sein Rauschebart wirkte, als hätte er ein Innenleben aus Draht. Nachdem er einen prüfenden Blick auf Koroljows Papiere geworfen hatte, lächelte er ihm von Arbeiter zu Arbeiter zu. »Gleich die Treppe rauf, Genosse. Fragen Sie an der Rezeption. Sie müssen sich an den Geschäftsführer wenden. Nikolai Wladimirowitsch. Lassen Sie sich nicht abschrecken, er ist ein anständiger Kerl.«
    Das riesige Foyer war mit so vielen Spiegeln, Bildern, Gold und Kristall verziert, dass das Auge es gar nicht zu fassen vermochte, und über allem prangte eine himmelblaue Decke, deren Ecken und Kanten mit aufgemalten Wolken verziert waren. Koroljow war noch nie hier gewesen, und das prachtvolle Interieur erstaunte ihn dermaßen, dass er wie angewurzelt stehen blieb und sich nach allen Richtungen umschaute wie, so fürchtete er, ein Dorftrottel bei seiner ersten Maiparade. Doch das Außergewöhnlichste war das lange Wasserbecken mitten im Saal, in dem junge Frauen mit unnatürlich roten Lippen und edelsteinbesetzten Badehauben eine Art Ballett aufführten und in gleichmäßigem Rhythmus die Beine aus dem Wasser reckten. Instinktiv nahm Koroljow den Hut ab, um den Schwimmerinnen seinen Respekt zu bekunden. Doch diese schenkten ihm keinerlei Beachtung und hielten den Blick auf einen unbestimmten Punkt irgendwo in der Gegend der Kronleuchter gerichtet.
    Als er seine heiß werdenden Wangen spürte, riss er sich zusammen und steuerte auf den eichengetäfelten Empfangstresen zu. Hoffentlich mussten die Ausländer, diese Ratten, für all diese Prachtentfaltung tief in die Tasche greifen. An der Rezeption wartete ein stattlicher Bursche, der mit seinem Pomadehaar und den hohen Wangenknochen aussah wie ein Filmstar. Koroljow spürte den starken Drang, gegen irgendetwas zu treten.
    Stattdessen legte er ruhig seinen Ausweis auf den Tresen. »Ich hätte einige Fragen an den Geschäftsführer. Ich glaube, er heißt Nikolai Wladimirowitsch.«
    Mit höflicher Aufmerksamkeit begutachtete der Rezeptionist Koroljows Fotografie. Die kapitalistischen Frauen waren bestimmt ganz vernarrt in den Kerl. Koroljow fand ihn spontan unsympathisch. Wenn dieser Mann ein Mitglied des Proletariats war, dann war er selbst eine Apfelsine.
    »Selbstverständlich, Genosse. Ich

Weitere Kostenlose Bücher