Russka
Rechten, das Kind, das nun zu weinen begann, auf dem linken Arm, ging er aufs Tor zu. Boris folgte ihm in einigem Abstand.
Was geschah da? Erst allmählich begriff Elena in ihrer Verstörung und Furcht, was gesprochen worden war. Frierend starrte sie hinter den anderen her. »Fedor!« Ihr Schrei hallte über den eisigen Marktplatz. Stolpernd rannte sie vorwärts.
Am Tor verneigte sich der erschrockene Wächter tief, die Hand auf dem Herzen. Ivan zeigte auf die Tür des Turmes. »Öffne!« Das Kind auf dem Arm, stieg er die Stufen im Innern hinauf.
Boris und der Wächter versperrten Elena den Weg. Wie ein wildes Tier wehrte sie sich, riß sich los, schlug die Tür von innen zu und verriegelte sie.
Sie konnte den Zaren in der Dunkelheit hören, das Knarren der Stufen unter seinen Schritten, das Geräusch seines Stabes. Sie hörte ihr Kind weinen. »Gott steh mir bei!« flüsterte sie.
Als sie die Stelle erreichte, wo die Stufen hinaus zur Brustwehr führten, vernahm sie keinen Laut mehr von oben. Ivan stand dort unterm Dach, wo die Fenster sich hinaus auf die endlose Ebene öffneten. Elena sah den dreieckigen Schatten des Holzdaches über sich. Und da hörte sie den Schrei ihres Kindes, sah zwei Hände, die ein kleines weißes Bündel in die Nacht hinaus schleuderten.
»Fedja!« Elena warf sich gegen die Brustwehr, streckte ihre Arme weit in dem ohnmächtigen Versuch, das Bündel aufzufangen, das an ihr vorbeifiel in die tiefen Schatten dort unten. Sie hörte den leichten Aufprall auf dem Eis.
In der Morgendämmerung reiste der Zar ab. Zuvor jedoch bestand er auf dem traditionellen Segen durch den Abt. Seinem Zug wurden zwei Schlitten hinzugefügt; der eine enthielt eine ansehnliche Menge von Münzen und Geschirr aus dem Kloster, der andere beförderte die Glocke, die das Kloster einst von Boris' Familie erhalten hatte. Dies alles sollte zur Herstellung von zusätzlichen Geschützen umgehend eingeschmolzen werden.
Bald danach kam die Nachricht, daß die Krim-Tataren sich tatsächlich den russischen Landen näherten. Der Zar, der wieder einmal den Glauben schürte, er sei ein physischer Schwächling, setzte sich in den Norden ab. Die Umgebung von Moskau wurde verwüstet.
Zwei Wochen nach dem Tod ihres Kindes stellte Elena fest, daß sie wieder schwanger war. Der Vater des Kindes, das sie trug, war auch diesmal Boris.
Mit Erstaunen bemerkte die Gemeinde während der Ostervigil im Kloster St. Peter und Paul im Jahre 1571 – wobei der größte Teil der verminderten Bevölkerung von Russka und Sumpfland anwesend war –, wie gleich nach Beginn der Feier eine einzelne Gestalt lautlos durch den hinteren Kircheneingang hereinkam: Boris Davidov.
Während der Fastenzeit hatte er sich nicht blicken lassen. Niemand wußte, was geschah. Es hieß, er faste allein. Andere behaupteten, seine Frau wolle ihn nicht mehr sehen. Wieder andere hatten angeblich gehört, wie er sie angesprochen habe. Einige meinten, er habe versucht, den Zaren an der Ermordung seines Sohnes zu hindern; es gab auch die Ansicht, er habe ihm dabei geholfen. So war es kaum verwunderlich, daß die Leute sich immer wieder neugierig nach ihm umsahen.
Boris stand da mit gesenktem Haupt. Er bewegte sich nicht aus diesem Teil der Kirche weg, der den Büßern vorbehalten war, er blickte nicht auf, und er bekreuzigte sich auch nicht an den Stellen, wo es in der Messe vorgeschrieben war.
Die Ostervigil der orthodoxen Kirche, in der die Auferstehung Christi gefeiert wird, ist ein Fest voller Freude und innerer Bewegung. Nach der langen Fastenzeit befindet sich die Gemeinde in jenem Zustand von körperlicher Schwäche und spiritueller Läuterung, wie es einem geistigen Fest zukommt. Die Vigil beginnt mit der Nachtmette. Um Mitternacht werden die prächtigen Türen der Ikonostase geöffnet, damit das leere Grab sichtbar wird. Die Gläubigen gehen, mit Wachskerzen in den Händen, in einer Prozession um die Kirche herum. Dann beginnt die Frühmette mit den österlichen Stundengebeten, auf deren Höhepunkt der Priester ausruft: »Christ ist erstanden!« Das Volk antwortet: »Er ist wahrhaft erstanden!« Ein junger Priester nahm nun Stefans Platz ein. Er stand zum erstenmal mit dem Kreuz in der Hand vor den heiligen Türen. Auch seine Knie zitterten, weil das Fasten ihn geschwächt hatte. Doch als er die Gemeinde und die brennenden Kerzen sah und den intensiven Weihrauchduft wahrnahm, der in alle Winkel der Kirche drang, erfüllte ihn ein erhebendes Gefühl.
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