Russka
»Christ ist erstanden!« rief er wieder aus.
Und auch diesmal antwortete die Gemeinde: »Er ist wahrhaft erstanden!«
Der junge Priester sah, daß die einsame Gestalt die Lippen bewegte. Er konnte nicht wissen, daß kein Laut aus Boris' Kehle drang. Dann kam der Osterkuß, und die Gläubigen stellten sich auf, und einer nach dem anderen küßte das Kreuz, die Evangeliare, die Ikonen und dann den Priester. Zum Schluß küßten die Menschen einander – es war Ostern, und dies war die einfache, liebevolle Art der orthodoxen Kirche, das hohe Fest zu feiern. Boris ging als einziger nicht nach vorn.
Nach dem Osterkuß hielt der Priester eine wundervolle Predigt über Johannes Chrysostomus und über das Vergeben. Er erinnerte daran, daß Gott ein Fest, eine Belohnung vorbereitet habe. Und ebenso sprach er von der Fastenzeit, von Reue und Buße. »Wenn einer ernsthaft gefastet hat, soll er jetzt seine Belohnung erhalten«, las der Priester mit sanfter Stimme vor. »Wenn einer nachlässig war, heißt es, so verzweifle er nicht. Denn das Fest des Herrn wird den Sündern nicht vorenthalten, wenn sie nur zu ihm kommen. Denn er gewährt Gnade den letzten wie den ersten. Wenn jemand sein Eisen in der ersten Stunde geschmiedet hat«, las er laut, »soll er belohnt werden. Wenn einer in der dritten Stunde kommt, ebenfalls. Wenn einer erst in der sechsten Stunde kommt, soll er keine Furcht haben. Wenn einer bis zur neunten Stunde gesäumt hat, soll er näher treten. Wenn einer gezögert hat…«, der Priester blickte nach hinten, »selbst bis zur elften Stunde, er möge kommen…«
Was ihm auch durch den Kopf gehen mochte – ob er nun begriffen hatte, daß seine Frau unschuldig war, ob er sich schuldig fühlte am Tod Stefans und Fedors oder ob er die Last des Bösen nicht länger tragen konnte, die sein Stolz ihm aufgebürdet hatte: Boris sank bei den wundervollen Worten weinend in die Knie. Im Jahre 1572 wurde die geschwächte opritschnina offiziell aufgelöst. Jeder Hinweis auf ihre Existenz wurde untersagt. Das Jahr 1581 war das erste der »Verbotsjahre«, in denen es Bauern nicht gestattet war, ihren Herren zu kündigen, nicht einmal am Sankt-Georgs-Tag.
Im selben Jahr brachte Zar Ivan in einem Wutanfall den eigenen Sohn um.
Der Kosak
1647
Freiheit. Die Freiheit bedeutete ihm alles. Um ihn lag endlose Steppe. Goldbraun, violett zum Horizont hin, erstreckte sie sich weit nach Osten. Wie still es war! Kein Lüftchen regte sich. Hier und da wuchsen zwischen dem wilden Gras der grenzenlosen Ebene ein paar Getreidehalme, deren Samen der Wind hierhergetragen hatte.
Andrej ritt sein Pferd in einem weiten Bogen von dem großen Weizenfeld weg, vorbei an dem kleinen kurgan am Ende, zwei Meilen weiter hinaus in das wilde Land, dann langsam zurück in Richtung auf das Flüßchen Rus, das in dieser alten Landschaft um Kiev auf den mächtigen Dnjepr zustrebte.
Der Hof seines Vaters lag inmitten einer Baumgruppe, etwa eine Meile von der kleinen Siedlung, die nach all den Jahrhunderten immer noch Russka hieß. Andrej lächelte, als er daran dachte, wie sein Vater Ostap sich über diesen Namen amüsiert hatte, als er das erstemal herkam.
»Aus dem Städtchen Russka im Norden ist mein Vater Karp auf und davon gelaufen«, erzählte er seinem Sohn immer wieder. Daß er auf diesem Weg in die Heimat früher Vorfahren zurückgekommen war, wußte er allerdings nicht.
Freiheit – das angeborene Recht eines jeden Kosaken. Freiheit und Abenteuer. Und nun war die Reihe an Andrej. Erst am Tag zuvor waren die beiden Männer auf dem Hof erschienen. Sie waren als Wandermönche verkleidet. Doch als der alte Ostap sie genauer betrachtete, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er führte sie ins Haus.
»Wodka!« rief er seiner Frau zu, »Wodka für unsere Gäste! Andrej, hör zu und schenke ein. Und nun, ihr Herren«, fuhr er in geschäftsmäßigem Ton fort, als sie Platz genommen hatten, »was gibt es Neues aus dem Süden, vom Lager?«
Es waren Kosaken, und sie hatten aufregende Neuigkeiten zu berichten.
Der alte Ostap schlug sich auf die Schenkel und schrie immer wieder: »Du solltest dich auf den Weg machen, Andrej. Welch ein Abenteuer!«
Mit den Kosaken über die Steppe zu reiten – davon hatte Andrej geträumt seit seiner Kindheit. Sein Pferd, seine Ausrüstung, alles war bereit. Er war ein hübscher Junge von neunzehn Jahren, gerade von der höheren Schule in Kiev zurückgekommen, wo er bei den orthodoxen Priestern Lesen
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