Russka
erklärte der junge Sekretär. »Jede Abteilung ist entstanden, weil man sich mit einer bestimmten Materie zu beschäftigen hatte; und wenn etwas Neues auftaucht, wird es demjenigen übertragen, der gerade frei ist. Es gibt mindestens noch drei weitere Abteilungen, die sich mit euch Kosaken befassen.«
»Ist das nicht verwirrend?«
»Nur solange man nicht Bescheid weiß. Aber es ist auch ganz nützlich, versteht Ihr? Man muß versuchen, seine Finger möglichst überall drinzuhaben.« Andrej schwirrte der Kopf, als Nikita ihm die hoffnungslos verworrene russische Bürokratie zu erläutern versuchte, und er erkundigte sich lieber nach den vielen Ausländern in Moskau.
»Diese verdammten Fremden!« schimpfte Nikita. »Leider brauchen wir sie. Fast immer in unserer Geschichte waren die Reitervölker unsere Feinde, meistens die aus dem Osten. Meine Vorfahren wußten, wie man gegen Tataren zu kämpfen hatte. Nun aber haben wir mächtigere Völker gegen uns: die Deutschen, die Schweden, die Kräfte oben in den baltischen Ländern. Wir würden gern deren Handel beherrschen, doch jene Menschen haben Kenntnisse und militärische Erfahrung, die wir nicht besitzen. Der Zar ist auf holländische und deutsche Techniker angewiesen, auf schottische Söldner, englische Abenteurer. Sie wissen, wie man eine gute ausgebildete Infanterie bekämpft. Sie kennen sich mit der Belagerungstaktik und der modernen Artillerie aus.«
»Wie steht es mit den Strelitzen?« Andrej hatte viel von diesen sagenumwobenen Musketieren gehört.
»Sie waren gut zur Zeit Ivans des Schrecklichen. Heute sind sie hoffnungslos rückständig, was Taktik und Waffen anbelangt. Wir müssen bescheiden werden und vom Westen lernen, mein Freund.« Diese Gedanken schienen Nikita zu deprimieren und machten auch Andrej nachdenklich: Er hatte sich doch manches anders vorgestellt. Nikita schenkte Wodka nach, und schon hellte sich seine Miene auf. »Haben wir erst einmal ihre verdammte westliche Technik gelernt, dann werfen wir sie alle hinaus!«
»Oh, darauf trinke ich«, meinte Andrej zustimmend. Wenn sie Genaueres über die Schwächen des Moskauer Reiches gewußt hätten, hätten sie einander wohl nicht so fröhlich zugeprostet. Im Grunde kannte niemand in Moskau, nicht einmal die adlige Elite, jene jahrhundertealte Kultur genau, die sich in diesen unbequemen westlichen Nachbarn repräsentierte. Sie hatten keine Ahnung von den bedeutenden philosophischen Diskussionen des Mittelalters, von den Entwicklungen der Renaissance hatten sie kaum je gehört; sie hatten nicht das geringste Interesse am allmählichen Entstehen einer vielschichtigen politischen und wirtschaftlichen Gesellschaft in Westeuropa. Und so konnten sie auch nicht wissen, daß Rußland zu diesem Zeitpunkt in seiner Entwicklung viele Jahrhunderte hinter dem Westen zurücklag. Die Russen nahmen lediglich die militärische Macht des Westens zur Kenntnis und glaubten, sie brauchten sie nur zu kopieren, und schon hätten sie alles Notwendige entdeckt. So griffen sie nicht nach dem Wesentlichen, sondern nur nach Schattengebilden.
»Was hältst du von den ausländischen Kaufleuten?« fragte Andrej. Nikita zuckte die Achseln. »Sie sind alle Ketzer. Der Patriarch Nikon weiß, wie man mit ihnen umzugehen hat. Sie fallen deshalb auf, weil er sie gezwungen hat, ihre Nationaltrachten zu tragen – so können sie sich nicht verstecken. Wißt Ihr, daß sie nicht mehr in der Innenstadt wohnen dürfen?«
Andrej hatte von der »deutschen Vorstadt« gehört; die verächtliche russische Bezeichnung bedeutete »Dreckloch«. Sie lag außerhalb der Stadt.
»Ich sehe auch keine Juden.«
»Nein. Der Zar will sie nicht hier haben. Aber es gibt noch Angehörige eines anderen Volkes, die von hier verbannt sind, zumindest aus der Hauptstadt: die Engländer!«
»Sind sie auch Ketzer?«
»Viel schlimmer. Wußtet Ihr das nicht? Vor knapp vier Jahren haben sie ihren eigenen König, Charles I. geköpft.« Auf Nikitas Gesicht zeigte sich blanke Verachtung. »Sie sind noch schlimmer als die Polen. Gott sei Dank – wir wissen, daß wir die Knechte des Zaren sind.«
Schon mehrmals waren Andrej ähnliche Worte zu Ohren gekommen. Die einfachen Leute bezeichneten sich als Waisenkinder des Zaren, und Leute von Rang waren anscheinend außerordentlich stolz, als Knechte des Zaren zu gelten.
Andrej ging. Als er sich nach ein paar Schritten nochmals nach dem Haus umsah, entdeckte er die jüngere Frau an einem geöffneten Fenster. Sie war
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