Russka
begonnen, aber sicher hatten sie unrecht, denn ihr Vater bestritt das energisch. Heute schien alles wieder in Ordnung zu sein. Ein leiser Wind ging. Am Fluß hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Daniels Familie überquerte den zugefrorenen Strom und nahm gegenüber der hohen Kremlmauern Aufstellung. Mitten auf dem Eis stand ein schreinähnlicher hölzerner Aufbau, über und über mit Ikonen behängt. Davor war ein weites rundes Loch ins Eis gehauen. Junge Priester und Diakone standen daneben. Marjuschka sah zu ihrem Vater hoch. Sie verstand, was es hieß, zu den raskolniki zu gehören, aber trotzdem durfte man sich an diesen von der amtlichen Kirche gefeierten Zeremonien erfreuen.
Bald würden der Patriarch und der Zar in großer Pracht auf dem zweisitzigen Thron auf dem Eis sitzen und der Weihe des Wassers beiwohnen.
Da erschien die Prozession, allen voran das Banner. Die juwelenbesetzten Mitren der Priester glänzten.
Plötzlich war der fröhliche, dabei harte Klang von Pfeifen und Trommeln zu vernehmen. Soldatenformationen marschierten im Gleichschritt übers Eis. Sie trugen nach deutschem Vorbild geschnittene, eng anliegende Uniformjacken in Rot, Grün oder Blau, Gamaschen und Dreispitze. Die Gesichter waren glattrasiert. Jeder Kompanie wurde ein Banner vorangetragen, und ganz an der Spitze schritt ein sehr großer Mann in grüner Uniform. An die zwölftausend fremdländisch aussehende Soldaten bildeten ein riesiges Quadrat um die Stelle, an der die Priester die Weihe vornehmen würden. Nun traten die Priester nach vorn. Hinter einem großen goldenen Kreuz wurde eine überdimensionale Laterne mit funkelnden Scheiben auf den Schultern von einem Dutzend Priestern getragen. Im Innern brannten Kerzen. An die fünfhundert kirchliche Würdenträger in ihren goldenen Roben folgten in eindrucksvoller Prozession: Erzbischöfe, Bischöfe, Archimandriten, Priester und Diakone. Während sie Aufstellung nahmen, wurden Hunderte von Fackeln entzündet. Auf einem erhöhten Podium hielt ein Diakon ein großes Banner mit dem goldenen Doppeladler der russischen Zaren hoch. Auf einem Thron saß der Patriarch. Wo aber, überlegte Marjuschka, war der Zar?
Sie konnte ihn nicht entdecken. Die Weihe hatte schon begonnen. Ein Priester schwenkte das Weihrauchgefäß mehrmals über dem Wasser. Lange Kerzen wurden hineingetaucht. Es war ein heiliger Augenblick. Nun, das wußte Marjuschka, wurde das Wasser dieses Flusses in das Wasser des Jordan verwandelt. Dies war in der Tat das Heilige Rußland.
Als der Weiheakt beendet war, wandten die Geistlichen sich um. Da schien plötzlich der ganze Himmel zu bersten. Der von großem Geschrei gefolgte Donnerschlag erfüllte den Umkreis. Dann hallte das Echo der Geschützsalven vom Kreml über den Fluß, und gleich darauf feuerten die zwölftausend Soldaten ihre Musketen ab; ein zweites, ein drittes Mal. Das kleine Mädchen brach in Tränen aus. Das war Zar Peters Beitrag zur Feier der Epiphanie. Nun erst erklärten Marjuschkas Eltern, daß der Mann im grünen Gewand, weit entfernt vom Patriarchen, der Zar sei und daß der Geschützlärm ein Freudenfest zu verkünden habe.
Daniel hatte das Gefühl, das wahre Gesicht des Antichristen geschaut zu haben. So etwas hatte es in Rußland bis dahin nicht gegeben. Daniel wurde sich bewußt, daß der Antichrist, dieser Peter, den religionslosen Staat verkörperte. Er erinnerte sich eines Satzes, den einer der raskolniki aus Moskau eine Woche zuvor geäußert hatte: »Allmacht ist gleichbedeutend mit dem Antichristen – alle Menschen sind ihr unterworfen.«
Peter verkörperte den neuen Staat. Und er wollte allmächtig sein. Eine Woche später war Daniels Freund, der kleine Mönch, verschwunden. Daniel hatte erfahren, daß man ihn zum Verhör vor den preobrazenskij prikaz gebracht habe. Zehn Tage später hörte er durch die Gemeinde der raskolniki, daß der Mann tot sei. Er hatte offen erklärt, Peter sei der Antichrist, sich jedoch geweigert, Komplizen zu nennen. Er wurde mit dem Tode bestraft, und zwar durch die in Rußland übliche koptschenje: Das Opfer wurde langsam zu Tode geröstet. Eine Woche danach brach Daniel nach Russka auf.
Andrej freute sich, nach Moskau zurückkehren zu können, um so mehr, als er aus Briefen erfahren hatte, daß sein alter Freund Nikita Bobrov noch am Leben war. Wie ich höre, ist er immer noch so reich wie ich, dachte er schmunzelnd.
Das Leben hatte es insgesamt gut mit Andrej gemeint. Er hatte zwar
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