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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Anbeginn der Welt mußte Herbst gewesen sein – wie sonst hätte Eva Adam einen Apfel reichen können? Im Dezember
    1699 verabschiedete Peter den ukaz, daß im folgenden Monat das neue System in Kraft treten werde: Erstmals begann in Rußland das Jahr mit dem Monat Januar. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
    Peter machte der russischen Mentalität nur ein Zugeständnis. Die katholischen Länder Europas hatten damals den zeitgemäßen Gregorianischen Kalender übernommen. Die Engländer benutzten als Protestanten noch den älteren, den Julianischen Kalender. Im Lauf der Jahrhunderte wurde der zuerst geringe Unterschied zwischen den beiden Systemen immer größer. Schließlich war der Julianische Kalender bereits elf Tage hinter dem Gregorianischen zurück, lieber jedoch wollte man eine kleine Verspätung haben als mit dem Papst übereinstimmen. Daher entschied Peter sich für die Julianische Zählung; als Folge davon lag Rußland bis 1918 kalendermäßig fast zwei Wochen hinter dem Westen zurück. Die Vorstellung vom nahen Weltende war zwar nicht neu, zu Daniels Zeit allerdings ungewöhnlich weit verbreitet, und nicht nur die raskolniki glaubten daran. Die Sammlung der ukrainischen Traktate, das sogenannte »Buch des Kyrillos«, die das Ende voraussagten, war lange vor dem Schisma bereits bekannt. Solange Daniel sich erinnern konnte, drängten die Nachfolger des Kapiton, den er an der Wolga kennengelernt hatte, die Bauern dazu, sich auf die Apokalypse vorzubereiten.
    Das Ende war nahe, man wußte nur nicht, wann genau es kommen würde. Als Daniel in Moskau eintraf, herrschte die allgemeine Ansicht, es sei bereits soweit.
    Er wurde von einem ehemaligen Mönch, der sich den raskolniki angeschlossen hatte, aufgeklärt. Es war ein kleiner, höchst attraktiver Bursche.
    Sie hatten sich bei einer geheimen Gebetsrunde in einem Privathaus kennengelernt. Der Mönch war Ikonenmaler gewesen und besaß zahlreiche Entwürfe, auf denen Zar Aleksej und Nikon als die Hörner des Antichrist oder Nikon als das Untier der Apokalypse dargestellt waren.
    Er kannte die Offenbarung des Johannes gründlich und erklärte anhand einzelner Passagen die Zusammenhänge mit momentanen Ereignissen. Je mehr die Moskauer Erfahrungen Daniel erschütterten, desto intensiver eignete er sich die Auslegungen des Mönchs an.
    Wenn aber das Ende tatsächlich bevorstand, mußte der Antichrist auf Erden erschienen sein. Wer mochte das sein? Manche hielten Zar Aleksej dafür, andere meinten, es sei Nikon. Doch auch hier zeigte der kleine Mönch sich besser informiert. »Sagt mir, wer Peters wirklicher Vater war.«
    »Zar Aleksej.«
    »Vielleicht. Aber warum ist er dann ein so düsterer Gigant? Könnt Ihr Euch einen anderen vorstellen?« Daniel blickte ihn verständnislos an.
    »Ach, Ihr seid ein guter Mensch, mein Freund; Ihr seht das Böse nicht. Ich sage Euch, der Vater dieses Peter war kein anderer als der schlimme Nikon. Und dieser widerwärtige, illegitime Sproß ist gar kein echter Zar. Peter selbst ist der Antichrist«, schloß der Mönch triumphierend. »Mit ihm selbst beginnt die Apokalypse. Seid auf der Hut!«
    Tatsächlich lieferte Peter in den folgenden Monaten seinen Untertanen reichlich Anlaß zu dieser Vermutung. Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, so hatte diese niederträchtige Neuerung des Kalenders ihn geliefert.
    »Heißt es nicht, der Antichrist wird die Zeit verändern?« erklärte der Mönch. »Heißt es nicht, die Jahre Gottes werden ungültig, wenn die Jahre Satans ausgerufen werden?«
    Daniel stimmte dem zu.
    Das Fest der Epiphanie, das auf den 6. Januar fällt, wurde in Rußland immer mit großer Pracht begangen. Hergeleitet von dem alten jüdischen Lichterfest, bedeutet Epiphanie – oder Theophanie, wie die Orthodoxen es gewöhnlich bezeichnen – »Erscheinung«. An diesem Festtag wird besonders der Begegnung Christi mit den Weisen aus dem Morgenland und der Taufe Christi im Jordan durch Johannes gedacht. In Rußland wurde an diesem Tag das Wasser geweiht; besonders feierlich war die Zeremonie, die man in Moskau beging. Die kleine Marjuschka war deshalb voller Vorfreude, als der Vater am Morgen verkündete, daß sie alle zum Fluß gehen und zusehen würden.
    Sie hatte in den letzten drei Wochen die in der Luft liegende Spannung gespürt, gehört, wie ihre Eltern und Eudokia miteinander verhandelten, wobei Worte fielen wie Gottlosigkeit und Wiederkunft. Sie hörte, wie die Leute sagten, das neue Jahr habe

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