Russka
aufwachen, und wie sollte er sich dann rechtfertigen? Er horchte angestrengt, ob sie atmete. Er hörte nichts.
Gewiß schlief sie schon. Als er vorsichtig die Tür öffnete, knarrte sie. Er wartete, sein Herz klopfte wild. Immer noch kein Laut. Nun öffnete er die Tür ganz und trat ins Zimmer. Das Bett stand rechts. Es war ein gewaltiges Möbel mit vier geschnitzten Pfosten und einem Baldachin, mit schwerer geraffter Seide behangen. Zu beiden Seiten stand je ein Nachttisch mit einer brennenden Kerze darauf. Inmitten dieses prächtigen Arrangements saß, von Kissen gestützt, Gräfin Turova. Das Haar hing ihr lose auf die Schultern, ihr Kinn ruhte auf dem reichen Spitzeneinsatz ihres Nachthemdes, und ihr Mund stand ein wenig offen. Alexander starrte geradewegs in ihre geöffneten Augen. Er stand stocksteif da und wartete darauf, daß sie etwas sagte. Würde sie jetzt schreien, würde sie böse werden? Ihr Gesicht war ausdruckslos. Er konnte jedoch sehen, daß sie atmete. So verblieben die beiden eine Weile in völliger Stille; dann kam von ihren Lippen ein kleiner schmatzender Laut, ein einzelner leiser Schnarchton. Da wurde es Alexander bewußt: Mein Gott, es ist wahr! Sie schläft tatsächlich mit offenen Augen. Er dachte, daß er jetzt wieder gehen sollte. Er hatte gesehen, was er sehen wollte. Doch etwas hielt ihn noch zurück. Er sah sich im Zimmer um. In einer Ecke stand eine weitere Büste von Voltaire; auf einem Tisch lagen einige Bücher, daneben stand ein Stuhl. Im übrigen war das Zimmer sparsamer möbliert, als er es sich vorgestellt hatte. Auf dem Boden lag nur ein dünner Teppich. Als Alexander leise durchs Zimmer ging, blieben ihre Augen vollkommen unbeweglich. Er stand am Fußende des Bettes und blickte sie an. Plötzlich verneigte er sich tief vor ihr. Ihre Augen bewegten sich nicht. Er lächelte vor sich hin und verbeugte sich noch einmal. Wie waren seine Gefühle für sie? Haßte er sie für das, was sie ihm angetan hatte? Eigentlich nicht. Sie war immer schon eigenwillig und exzentrisch gewesen. In diesem Augenblick war er tatsächlich erleichtert, daß er so vor ihr stehen konnte, ohne sie, wie sonst, fürchten zu müssen.
Er ging an den Tisch und warf einen flüchtigen Blick auf die Bücher. Da waren ein paar französische Schauspiele und mehrere Zeitschriften. Eine enthielt einen radikalen Artikel von Radischtschev. Als er die übrigen ansah, war er höchst überrascht bei der Feststellung, daß sie Artikel von seiner Hand enthielten. Dies waren die anonymen Artikel, die gewagten Aufsätze über Demokratie und Leibeigenschaft, gerade noch an der Grenze des Erlaubten. In diesen Artikeln war vieles unterstrichen, es gab Randbemerkungen von der Hand der Gräfin. Sie interessierte sich also wirklich dafür.
Schließlich stand Alexander auf, und zum Abschluß dieser kuriosen Posse, die das Schicksal ihm beschert hatte, vollführte er ein paar Tanzschritte vor der Gräfin, verbeugte sich noch einmal feierlich und zog sich zurück. Als er durchs Haus ging, war kein Laut zu hören.
Als Gräfin Turova sicher war, daß Alexander das Haus verlassen hatte, rief sie nach ihrer Zofe.
Tatjana war so verliebt, daß es fast schmerzte. Kam Alexander ihr nahe, zitterte sie; lächelte er sie an, errötete sie; hörte sie einen Tag lang nichts von ihm, wurde sie blaß und stumm. Zur Zeit sah sie sehr schmal aus – sie hatte zwei Wochen lang kaum etwas gegessen.
Seit dem frühen Morgen stand sie am Fenster und sah hinaus. Es wurde bereits dunkel, als sie von unten Geräusche hörte. Nach einer Weile erschien ihr Vater in der Tür.
»Alexander Prokofievitsch macht dir seine Aufwartung. Er möchte dir etwas sagen.«
Tatjana stand auf, sie zitterte ein wenig. Zu ihrem Schrecken sah ihr Vater besorgt aus. »Ehe du hinuntergehst, Tatjana, muß ich dich etwas fragen: Bist du dir absolut sicher, daß du diesen Mann willst?« Sie starrte ihn an. Also war Alexander gekommen, um sie zu holen. Sie errötete. Wie konnte ihr Vater nur so etwas fragen! »Einen Augenblick, Papa.« Sie lief in ihr Zimmer, die Mutter folgte ihr, der Vater blieb zurück. Er hatte seine Vorbehalte gegen Bobrov. Alexander wartete unten. Eine Viertelstunde später öffnete sich die Tür. Alexander war überrascht von Tatjanas Anblick. Sie trug ein leuchtendblaues Kleid, das wundervoll zu ihrem hellen Teint paßte und ihre blaßblauen Augen strahlender erscheinen ließ. Er hatte ihr Gesicht rund und sanft in Erinnerung; nun aber hatte es den
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