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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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kindlichen Ausdruck verloren, und ihre Haut schimmerte fast durchsichtig. Ruhig lächelnd ging sie auf ihn zu. »Mein Vater sagte mir, daß Sie mich zu sprechen wünschen, Alexander.«
    Er war von ihrem veränderten Anblick beeindruckt. Nun, diese starke junge Frau schien durchaus in der Lage, jenen erstaunlichen Brief zu schreiben, der ihn hatte zu Kreuze kriechen lassen. Was Alexander nicht wissen konnte: Tatjana hatte den Brief gar nicht geschrieben, genauer gesagt, es war zwar ihre Handschrift, sie hatte aber den Text nicht verfaßt. Und während sie schrieb, blickte sie immer wieder unsicher und mit Tränen in den Augen zu der alten Dame hin, die ihn in aller Ruhe diktierte. Als nämlich Tatjanas Mutter die Seelenpein des Mädchens nicht länger hatte mit ansehen können, wandte sie sich an die einzige Person, die die Angelegenheit mit Sicherheit regeln konnte. Und so hatte sie Tatjana heimlich mit zur Gräfin Turova genommen, obwohl sie die Dame kaum kannte.
    Die Gräfin hatte einen strengen Ton in dem unerhörten Brief angeschlagen. Sie war einigermaßen stolz auf ihr Werk und voller Vertrauen auf das Ergebnis. »Er gehört dir, wenn du ihn willst«, sagte sie voraus.
    Warum hatte Gräfin Turova sich dieser Mühe unterzogen? Keinesfalls weil Alexander oder dieses kleine deutsche Mädchen ihr sonderlich am Herzen lagen. Immerhin war er ein Verwandter, und das Mädchen war eine reiche Erbin. War Alexander erst einmal mit einer reichen Frau verheiratet, konnte er ihr vielleicht doch von Nutzen sein. Außerdem war es eine grandiose Gelegenheit, Macht auszuüben. Sie genoß es, den Spieler in seinem eigenen Spiel zu übervorteilen.
    »Du weißt natürlich, daß er eine Geliebte hat«, bemerkte sie in aller Beiläufigkeit.
    Tatjana errötete. Sie wußte es, denn ihre Mutter hatte es längst herausgefunden. Doch das war bei einem älteren Mann zu erwarten – es machte ihn noch geheimnisvoller und aufregender. »Ich bin sicher, daß er, wenn er mit einem jungen Mädchen wie Tatjana verheiratet ist, keine Geliebte mehr braucht«, meinte die Mutter hoffnungsvoll.
    »Im Gegenteil«, widersprach die alte Dame. »Je mehr ein Mann in einem gewissen Alter bekommt, desto mehr will er.« Sie wandte sich an Tatjana. »Du darfst ihm weder Zeit noch Gelegenheit dazu geben, wenn du einen treuen Ehemann haben willst.«
    Mit dieser Auskunft und dem scharf formulierten Brief ausgerüstet, kehrte das sich in Liebeskummer verzehrende Mädchen nach Hause zurück und wartete ab. Ihr Leid hatte Tatjana gestärkt. Nun, im Augenblick ihres Triumphs, wirkte sie völlig gelassen. Sosehr sie ihn auch begehrte – sie durfte ihm keine Gelegenheit mehr geben, sie zu demütigen. Von jetzt an wollte sie ihm zeigen, daß es ein Glück für ihn sei, sie zu bekommen, nicht umgekehrt. Und ich werde ihn dieser Französin wegnehmen, dachte sie. Es schneite leicht an dem Abend, als Alexander durch die Stadt ging. Er ging rasch, blickte sich jedoch von Zeit zu Zeit vorsichtig um, ob jemand ihm folgte. Er kam an einer Kirche vorbei und bog dann um die Ecke in eine stille Straße.
    Was, zum Teufel, war bloß mit dem Brief geschehen, den der Fremde ihm am Abend zuvor gegeben hatte? Er hatte ihn zu Hause sofort verbrennen wollen, doch dann hatte er ihn vergessen. Erst als er Tatjana am frühen Nachmittag verlassen hatte, dachte er wieder daran. Er faßte in seine Jackentasche und stellte fest, daß der Brief nicht mehr da war. Er zuckte die Achseln. So wichtig war das nun auch wieder nicht. Für den, der ihn fand, konnte er nichts bedeuten.
    Alexander passierte einen Bogengang und kam in den dunklen Hof eines großen Gebäudes. Von den Wänden blätterte der Verputz. Alexander stieg die schwach beleuchtete Treppe ins obere Stockwerk hinauf. An der Wohnung angekommen, klopfte er dreimal vorsichtig. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und aus der düsteren Diele kam eine Stimme: »Was suchen Sie?«
    »Die Rosenkreutzer.«
    Die Tür wurde geöffnet. Alexander Bobrov war, was nicht einmal seine Geliebte wußte, Mitglied des engsten Kreises jener großen, geheimen Bruderschaft, der Freimaurer. An diesem Abend gab es dort Wichtiges zu erledigen.
    Vielleicht hätte sie darauf gefaßt sein sollen. Aber sie war eben noch sehr jung. Sie liebte ihn. Wenn sie seine Kutsche kommen sah oder beobachtete, wie der Lakai an der Tür ihm aus dem Mantel half, spürte sie eine Welle der Erregung. Er wußte genau, wie er sie die Liebe lehren konnte. Schon zu Anfang ihrer Ehe

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