Russka
für einen Feldzug für sich und seine Pferde sieben Rubel aufzuwenden; Rüstung und anderes Gerät waren bereits in seinem Besitz. An Steuern mußte er vier Rubel jährlich entrichten. In Russka hatte er geringe Schulden, auch bei Lev, dem Kaufmann. Wie die Dinge standen, würde er innerhalb einiger Jahre zwangsläufig immer mehr in Schulden geraten, falls der Zar nichts für ihn tat.
Doch Boris war nicht mutlos. Mit der Zeit würde er Ivans Gunst schon erringen. »Ich glaube, wir können die Einkünfte aus dem Land verdoppeln«, erklärte er dem Verwalter zuversichtlich. Genau das hatte der arme Bauer Michail befürchtet. Ein Bauer hatte zwei Möglichkeiten, seinen Herrn zu bezahlen: entweder gab er Geld oder Naturalien, entrichtete also den obrok, oder er bewirtschaftete das Land seines Herrn in Fronarbeit, die sogenannte barschtschina. Die Kombination aus beiden Leistungen war die Regel. Die Bauern in Sumpfloch arbeiteten nur einen oder zwei Tage auf dem Land, das Boris für sich behalten hatte. Dazu leisteten sie obrok für das Land, das sie erhalten hatten. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte der Besitz drei Pächter verloren; einer war zu einem anderen Herrn übergewechselt, einer war ohne Erben gestorben, und der dritte war weggeschickt worden. Sie wurden nicht ersetzt, so hatte Boris' Vater noch einmal vierzig Hektar gutes Land für sich behalten.
In Michails Abmachung mit Boris war die Aufteilung der Verpflichtungen nicht festgesetzt. Falls Boris sie ändern wollte, konnte er das. Er überlegte: Der Pachtzins war zwar mehrfach angehoben worden, doch der Getreidepreis war noch deutlich höher gestiegen. »Wir können den obrok reduzieren und die barschtschina erweitern«, meinte Boris munter. Das Getreide, das er auf dem zusätzlichen Acker anbauen konnte, würde viel mehr wert sein als die laufenden Pachteinnahmen. Er würde seine Einnahmen steigern, während die Bauern natürlich verlieren würden. Zwei Monate später bat Boris den Kaufmann um einen Besuch in seinem Haus. Lev wußte, warum. Boris war nicht untätig gewesen; er hatte alles, was zu seinem Besitz gehörte, einer genauen Prüfung unterzogen.
Michail, der arme Vetter des Kaufmanns, klagte: »Anscheinend entgeht ihm nichts. Er ist ein Tatar wie du, Lev.« Bei allem Mitgefühl für seinen Vetter – Lev bewunderte Boris insgeheim. Vielleicht wird er uns alle überraschen und seinen Besitz behalten, dachte er beinahe belustigt. Ihm jedenfalls würde es nichts ausmachen! Er würde überleben, und wenn das bedeutete, sich überall lieb Kind zu machen: in Russka natürlich zuerst einmal beim Kloster, dem das Land gehörte; doch auch bei Boris. Denn man mußte Umsicht walten lassen. Manchmal gelüstete es die Zaren in Moskau nach kirchlichen Besitzungen, und sie fanden einen Vorwand, um sie zu übernehmen. Falls das geschehen sollte, würde der junge Herr, der dem Zaren diente, eine wichtige Rolle spielen.
Unter solchen Erwägungen erreichte Lev das behäbige, zweistöckige Holzhaus mit der breiten Außentreppe. Er wurde in den großen Wohnraum geführt, wo Boris ihn erwartete. »Wie du weißt, werden die Einkünfte aus Sumpfloch in diesem Jahr stark ansteigen, doch in der Zwischenzeit brauche ich Kredit; ich denke an fünf Rubel.«
Lev nickte. Die Summe war bescheiden. »Kann ich dir leihen. Die Zinsen betragen einen Rubel auf je fünf.«
Zwanzig Prozent! Boris staunte mit offenem Mund. Das waren höchst angenehme Bedingungen – um die Hälfte weniger, als zwei andere Kaufleute ihm vorgeschlagen hatten. Lev lächelte. »Meine Rechnung geht dahin, daß ich die Freunde den Feinden vorziehe, Herr«, war die entwaffnende Begründung. »Ich hoffe, daß Elena Dmitreva wohlauf ist!« sagte er höflich.
»Ja danke.« Lev glaubte zu sehen, daß über das junge Gesicht ein Schatten lief. In der Stadt hieß es, Boris' Frau sei ein freundliches, sanftes Geschöpf. Außer den beiden Bediensteten und der Frau des Priesters hatte aber kaum jemand in Russka sie gesehen. Sie zeigte sich nicht in der Öffentlichkeit. Boris ließ den Priester zum Messelesen ins Haus kommen, statt seine Frau den neugierigen Blicken der einfachen Leute in der Kirche auszusetzen. Das Leben in Russka kam Elena seltsam vor. Überall war es so ruhig. Anna, die Frau des Priesters, die sie manchmal besuchte, war eine angenehme junge Person von zwanzig Jahren. Boris hatte gegen die Besuche nichts einzuwenden. Oft saßen die beiden am Nachmittag im oberen Stockwerk beisammen. Von
Weitere Kostenlose Bücher