Russka
Anna erfuhr Elena eine Menge über die Gemeinde. Sie konnte Boris sogar versichern, daß der Priester ihm wohlgesinnt sei. Elena hatte sich vorgestellt, daß sie als verheiratete Frau mit ihrem Mann und ihrem Haus beschäftigt sei und immer etwas zu tun habe. Da Boris jedoch häufig auf seinem Besitz war, wußte sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Sie war dreimal im Kloster gewesen, das von der Familie ihres Mannes gegründet worden war. Die Mönche hatten sie freundlich empfangen. Sie hatte mit Boris auch Sumpfloch einen Besuch abgestattet, und dort hatte man sie mit tiefen Verbeugungen und kleinen Geschenken willkommen geheißen. Doch da Elena fühlte, daß die Einwohner des Weilers sie als Anlaß für ihre neuen Verpflichtungen ansahen, legte sie keinen Wert auf einen weiteren Besuch.
Wie sehnte sie sich nach dem geschäftigen Treiben von Moskau, dem ausgefüllten Leben mit ihrer Familie! Warum ging ihr Mann nicht wieder dorthin mit ihr? Er mußte seine Geschäfte in Russka doch nun bald beendet haben!
Boris gab ihr immer wieder Rätsel auf. Sie war an die häufig schlechte Laune ihres Vaters gewöhnt und wußte, daß Männer unter wechselnder Stimmung leiden. Sie hätte es akzeptieren können, wenn das auch bei Boris so gewesen wäre oder wenn er sie hin und wieder geschlagen hätte. Darauf war sie schließlich gefaßt. Lev, der Kaufmann, schlug seine Frau grundsätzlich einmal in der Woche, das wußte sie.
Doch Boris war stets freundlich, und wenn ihn etwas bedrückte, zog er sich an den Ofen oder ans Fenster zurück. Wenn sie ihn nach dem Grund fragte, lächelte er nur vage.
Elena wußte, daß er von ihr erwartete, eine vollkommene Ehefrau zu sein, so wie Anastasia es für Ivan war. Was aber bedeutete das? Sie tat ihm jeden Gefallen, war zärtlich, wenn er Kummer hatte. Doch irgend etwas an ihr schien ihn zu enttäuschen. Sie bemühte sich vergeblich, den Grund zu finden.
Im Winter kamen beunruhigende Nachrichten aus dem Osten. Die Garnison in Kazan war zu klein, und nun befand sich das gesamte Gebiet um die eroberte Tatarenstadt im Aufruhr. »Zar Ivan hat die duma der Bojaren zusammengerufen, doch sie will nicht in Aktion treten«, erzählte ein Kaufmann aus der Hauptstadt. Dieses Ereignis brachte die erste ernste Verstimmung zwischen den jungen Eheleuten. »Diese verdammten Bojaren«, fluchte Boris. »Ich wünschte, der Zar würde sie alle erledigen.«
»Nicht alle Bojaren sind schlecht«, protestierte Elena. »Doch, das sind sie«, schnappte Boris trotzig zurück. »Und eines Tages zeigen wir ihnen, wo ihr Platz ist.« Er wußte, daß in diesen Worten eine Beleidigung ihres Vaters verborgen lag, die sie traurig stimmte. Doch das war ihm jetzt gleichgültig. Einige Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Elena war nur von der Frage besessen, wann sie wieder nach Moskau reisen würden. Sie war sich nicht im klaren darüber, daß der Grund der Verzögerung das Geld war. Boris hatte mit ihr nie über seine Finanzen gesprochen. Sie hatte in ihrem Vaterhaus in Moskau ein angenehmes Leben geführt und konnte sich nicht vorstellen, welch finanzielle Belastung das gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt für einen Mann mit bescheidenen Mitteln bedeutete. Anfang Februar waren sie immer noch in Russka, und Elena fühlte sich sehr einsam. Also sandte sie eine Nachricht an ihre Mutter. Das war nicht schwierig. Anna übergab die Botschaft einem Kaufmann, der nach Vladimir reiste. Der wiederum reichte sie weiter an einen Freund, der auf dem Weg nach Moskau war. Elena beklagte sich keineswegs in ihrem Brief, sie bat nur, ihr jemanden zur Gesellschaft zu schicken – vielleicht eine arme Verwandte.
Als Ende Februar zwei Schlitten vor ihrem Haus vorfuhren, stieß Elena einen Freudenschrei aus: Ihnen entstiegen, anstelle der armen Verwandten, ihre Mutter und ihre Schwester. Sie wollten eine Woche bleiben. Elenas Mutter war eine große, imposante Frau, und sie behandelte Boris mit freundlicher Höflichkeit. Die Schwester, die verheiratet war und schon Kinder hatte, war eine stämmige Person, die gern lachte. Natürlich bedeutete der Besuch Extraausgaben. Nach dieser Woche wußte Boris, daß seine Anleihe bei Lev nicht ausreichen würde. Das ärgerte ihn. Noch schlimmer war, daß er sich ausgeschlossen fühlte. Elena wollte unbedingt neben ihrer Schwester schlafen, und die Mutter bewohnte das Zimmer im oberen Stockwerk, so daß Boris unten am großen Ofen schlafen mußte. Die beiden Schwestern fanden das höchst
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